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​Kapitel IV – Von feurigen Entrückungen

22/09/15: 

Es war ein merkwürdiges Gefühl, nicht von seiner Schwester geweckt zu werden. Kein Gehüpfe auf dem Bett. Kein taktisches Spiel am Morgen. Keine nervtötende Stimme, die mir die Sicherheit gab, dass es weiterer Tag in meinem eintönigen Leben anzufangen schien. 

Stattdessen blendete mich dieser riesige LCD mit meinem Teddy drauf. Und das schlimmste...  

NUT: “BZZRT BZZRT... DING DONG... KIKERIKI...” 

Er war natürlich auch vor mir wach. 

 

NUT: “Einen wunderschönen Tagesanbruch, Meister! Die Zeit bricht heran, für sie aufzustehen!” 

So durfte ich mir sein Morgengepiepe gleich mal in fetzigen 7.1 Surround Sound anhören. 

NUT: “In ihren Augen vermerke ich immer noch den Wunsch, zu ihrer täglich besuchten Bildungsstätte aufzubrechen. Doch wie ich schon am gestrigen Tage erwähnt habe, muss ich dringendst davon abraten, da anderweitige Vorkehrungen, die es von höchster Wichtigkeit gelten, sie nicht zu missachten, auszuführen sind...” 

 

Und so ging es immer weiter fort. Wie in einer Dauerschleife erzählte mir der Metallkasten, wie dämlich es doch sei, jetzt zur Schule zu gehen. Ob ich denn nichts unternehmen möchte und all so ein Blödsinn. 

Doch so hatte ich mich entschieden. Ich wollte einen ganz normalen Schultag. Ich wollte die ganz normalen Leute treffen. Ich wollte ganz normal meine Forschung fortsetzen. Alles andere war mir vollkommen egal. 

Auch ich habe ein Limit an Bullshit, den ich vertragen kann. Und dieses wurde gestern meilenweit überschritten. Also machte ich mir keine Gedanken über was war und was kommen mag. Dass diese Denkweise nicht ewig gut gehen kann, war mir zwar bewusst, kümmerte mich aber im Moment recht wenig. 

 

Zum ersten Mal seit Jahren hatte ich nichts zur Frühstückszeit zu mir genommen. Ich wollte mir eigentlich Essen hierher teleportieren lassen. Doch das erwies sich schwieriger als gedacht... 

NUT: “Meister, ich würde ihnen liebend gern ein leckeres Festmahl servieren. Ich fürchte nur, dass ich meine ethischen Einstellungen gegenüber dem Akt des Stehlens für sie nicht unterdrücken kann. Und so sehe ich mich ohne vorliegende Kost nicht in der Lage, ihnen als Maître de Cuisine zu dienen...” 

NUT wollte seine Kraft nicht zum Dieben missbrauchen. Da macht die Blechbirne natürlich den Strich. Also nahm ich das wenig Geld, das ich in der hierher teleportierten Schultasche hatte und hoffte mir später was vom Schulbäcker zu kaufen. 

 

Als es also Zeit war aufzubrechen, entschied ich mich gleich zum Bahnhof zu teleportieren, da ich im Bus wahrscheinlich zu viel Aufsehen erregen würde. Ich wusste ja jetzt von den Nebenwirkungen und wollte austesten, wie weit ich denn mit dieser Methode der Bewegung vorankomme. Direkt zur Schule traute ich mich noch nicht, da diese doch einige Kilometer entfernt liegt und ich dort nicht komplett im Eimer ankommen wollte. 

NUT transportierte mich schließlich wie geplant mit meinem Schulzeug zum gewünschten Ort. Sobald ich komplett angekommen war, bemerkte ich sofort, wie ähnliche Schwindelgefühle wie die von gestern wieder eintrafen. Aber sie waren bei weiten nicht so schlimm, dass man sie nicht aushalten konnte. 

(“Oh, hehe... Na, das hat doch wunderbar geklappt...”) 

Ich war selbstbewusst, nach nur einmal testen, eine ganz solide Einschätzung erlangt zu haben, wie weit ich diese Fähigkeit ausreizen kann. Zumindest war ich ziemlich zuversichtlich, mittlerweile eine gewisse Vertrautheit für das Ganze bekommen zu haben. 

 

Ich begab mich zur üblichen Stelle, wo Alex, Markus und ich uns immer aufhalten, um auf das Eintreffen des Zuges zu warten. Doch nur einer unseres Trios war pünktlich. Die wenigen Schritte dorthin füllten mich mit einer noch nie zuvor verspürten Sensation von Schuld und Reue. 

“Hi, Markus.” 

Markus: “...Hi...” 

Markus wirkte überrascht, als er meine Stimme hörte. Auch wenn das nicht wirklich zu bemerken war. Bevor er die Chance hatte, irgendetwas einwerfen zu können, wollte ich ihm unbedingt zuvorkommen. Doch es machte nicht den Anschein, dass Markus irgendetwas sagen wollte. 

 

“Es tut mir leid... Ich weiß auch nicht...” 

Nicht gerade meine besten Worte realisierte ich schnell. Doch das war es, was meinem Herzen gerade wirklich am nächsten lag. Trotzdem wollte ich es nicht bei dem belassen und suchte nach weiterer Zerrissenheit in mir. 

Doch als ich nach stundenlangem Tumult endlich wieder mit bei vollstem Verstande vor einer Person stand, der ich mein ganzes Leben anvertrauen würde, fiel mir nichts mehr ein. Mein Kopf war, als wäre er völlig geleert worden und nur eine blanke Vorlage von mir ist übriggeblieben. 

  

Markus schaute in den Himmel, so wie er es immer jeden Morgen tat, schloss seine Augen, schnaufte leise in sich rein, öffnete sie wieder und linste dann zu mir rüber. 

Sein stets erschöpft und urteilend aussehender Blick schoss mir einen Bleipfeil direkt durchs Herz. Ich wusste, dass sie beide sich viele Sorgen gemacht haben. Von Schuld schließlich übernommen, beugte ich meinen Kopf vor ihm und strecke meine beiden Arme in einer entschuldigenden Geste nach vorne. 

Markus: “Hech... Ich erwarte nicht, dass alle Menschen schlau sind... Doch dumm müssen sie auch nicht unbedingt sein.” 

Ich spürte, wie meine Tränensäcke sich wieder füllen wollten, doch diesmal konnte ich es unterdrücken. 

“Ich weiß, dass ich ein Idiot bin... D-Das musst du mir nicht auch noch sagen...” 

 

Markus: “Dann ist ja gut...” 

Danach herrschte eine unangenehme Stille. Doch es war eine etwas andere Stille als noch an Tag D. Eine Stille, gefüllt von einer einkehrenden Gleichgültigkeit, die drohte, den gesamten Bahnhof einzunehmen. 

Diese hielt aber glücklicherweise nicht lange, da das Tuscheln neben uns begann. Einige Menschen hatten mich langsam wiedererkannt und fingen an, sich über mich zu unterhalten. Es waren auch Leute dabei, die ich wiedererkannte, daher hoffte ich das der Zug bald kommen mag. 

 

Aus dem Nichts tippte man mir auf die rechte Schulter. 

Noah: “Na, Alex...” 

Vor Schreck zuckte ich zusammen. Diese Stimme hatte bei mir sofort für Gänsehaut gesorgt. Das letzte Mal, als ich sie vernommen hatte, verlor ich jegliche Kontrolle über mich selbst.  

“Morgen... Noah.”, versuchte ich so natürlich wie möglich zu antworten, als wäre nie etwas sonderbares geschehen. 

Ich wollte im Boden versinken. Dass ich allein durch seine Anwesenheit solche Nervosität verspürte, fand ich so demütigend, dass ich an nichts mehr anderes denken konnte und wie verwurzelt an Ort und Stelle stecken blieb. Mir war nicht vieles in meinem Leben bisher so peinlich gewesen als dieser Moment. 

Erst recht nicht traute ich mich umzudrehen. Denn wo Noah sich befand, sind die anderen nicht fern. Das Letzte wäre es jetzt gewesen, mich ihnen wirklich zu erklären. Ich hatte gestern sowieso Glück gehabt, dass Noel keine Chance mehr hatte, mich weiter auszuquetschen. 

 

Marcus: “Ich glaube, es gibt da etwas, von dem du uns erzählen solltest, Alex...” 

“Hehehe... Was denn? Bei mir ist alles wie immer. Nichts zu berichten. Ihr... Ihr seid die, die euch komisch verhalten... Ja, nehmt ihr nicht normalerweise erst die nächste Bahn?” 

Noah: “Tatsache ist, dass wir extra für dich heute eine Ausnahme machen...” 

Zu meiner vollsten Verwunderung drehte mich Noah und packte meinen Hals so fest es ging. Erst jetzt konnte ich seinen todernsten Blick sehen. 

Noah: “Spiel besser, nicht blöd, Alex! Was war das gestern?!” 

Es war ein ungewohntes Bild Noah Gewalt anwenden zu sehen, da er eigentlich eine Figur ist, die für gewöhnlich lieber zu Worten griff. Aber zugegebenermaßen war vieles in dieser Situation nicht so, wie es sein sollte. 

 

(“Arggh! Mensch, tut das weh...”) 

Ich versuchte verzweifelt, um mich zu schauen. Beide Markusse standen neben uns und rührten sich nicht ein Stück. Selbst Noel und Jakob konnte ich etwas abseits vom Geschehen erkennen. Auch sie machten keine Anzeichen, sich an der Auseinandersetzung zu beteiligen. 

(“Warum... Ahhh... hilft mir keiner? Habe ich das... Hrmpf... wirklich verdient?”) 

In Situationen wie diesen, wo ich nicht mehr wusste, wo oben und unten war, half mir nur noch eines. Ich versuchte das Geschehene noch mal Revue passieren zulassen, um die scheinbar auf dem Kopf stehende Gesamtlage, in der mich zu befinden schien, einmal von Grund auf zu analysieren. Und das Ganze am besten so schnell wie möglich. 

 

(“Noah würde nie und nimmer ohne heftigen Grund so reagieren... Auch wenn ich in Sachen Stärke relativ einfach zu übertrumpfen sein mag...”) 

Was mir sofort auffiel, war, dass er trotz des festen Griffes am ganzen Körper zitterte. Sein Herzschlag war auch außerordentlich schnell und laut zu hören. 

(“Warum reagiert er denn so emotional? Fürchtet er sich etwa?”) 

Ich lächelte in mich hinein. Noah wird es nicht anders als mir gestern ergangen sein. Auch er hatte Angst bekommen, nachdem er die wilde, unkontrollierte und zerstörerische Seite dieser Kraft wahrgenommen hatte. 

 

Noah: “Und, jetzt glotzt du noch so behindert... Wenn du nicht reden willst, werde ich es anders erzwingen müssen...” 

Er holte frustriert zum Schlag aus. Sein ganzer Arm schaukelte wild. 

Marcus: “Hey Noah, das geht zu weit! Wir wissen nicht, inwiefern er Schuld für alles trägt.” 

Noah: “Ja, aber anders finden wir es nie heraus. Dass der Junge redet, ist undenkbar...” 

“Sorry Noah... ack... an deiner Stelle... ack... würde ich das... ack... nicht riskieren. Ich weiß nicht... ack... diese Kraft zu kontrollieren...” 

Verdutzt inspizierte er mich von oben bis unten an. 

Noah: “Pah! Als hätte ich Angst vor dir! Das ich nicht lache...” 

Rücksichtslos setzte er mich zurück auf den Boden. Keuchend tastete ich mir den Hals ab, um den Schmerz besser auszuhalten. 

 

“Hech... Hech... Hech...” 

Noah: “Doch die Leute in der Stadt hatten Angst. Angst vor dem schlafenden Monster, das in dir zu stecken scheint. Und genau davor fürchte ich mich auch. Denn was auch immer es ist, es scheint vor gar nichts Halt zu machen...” 

Weitab merkte man wie Noel beunruhigt eingreifen wollte, doch Jakob hielt ihn zurück.  

Marcus: “Und da ist noch eine persönliche Sache, die mich stört... Wieso verteidigt Noel dich schon den ganzen Morgen? Irgendwas muss zwischen euch vorgefallen sein. Aber er weicht dem Thema genau wie du die ganze Zeit aus...” 

Der Zusammenstoß erreichte hier vorerst seinen Höhepunkt. Am liebsten hätte ich alle Missverständnisse zu diesem Zeitpunkt für immer aus der Welt geschafft. Aber natürlich musste das Schicksal uns dazwischenkommen. 

 

Jakob: “Hey, hört ihr das?” 

In der Ferne hörte man, wie ein Dutzend Sirenen läuteten. 

Noel: “Polizei?” 

Der Lärm wurde immer lauter und es wurde offensichtlich, dass eine ganze Kolonne an Einsatzfahrzeugen hierherfuhr. 

Marcus: “Was wollen die hier?” 

Noah: “Hmm... gute Frage...” 

In wenigen Sekunden war der Bahnsteig regelrecht besetzt von Polizeiwägen. Um die fünfzig Polizisten stiegen aus ihnen aus und drängten alle Schüler vom Gleis weg. In null Komma nichts war der ganze Bereich abgesperrt und für den Normalbürger unzugänglich. 

 

KRRCCCHTZ! 

“ÄT-EHM! WIR BITTEN ALLE PERSONEN SICH VON DER PLATTFORM ZU ENTFERNEN! DIESE STEHT FÜR DIE WEITERE ZEIT UNTER POLIZEISCHUTZ! BEI MISSACHTUNG MUSS MIT WEITEREN KONSEQUENZEN GERECHNET WERDEN!” 

Schrie, was wie aus der Ferne nach einer Polizistin aussah, viel zu motiviert durch ein Megafon, sodass es nur so in den Ohren schmerzte. 

(“Moment... Ist sie überhaupt eine Polizistin?”) 

Bei genauer Betrachtung begann man dies auf jeden Fall infrage zu stellen. Denn die junge Frau hatte eine durchaus fragwürdige Aufmachung an sich, die nur mancher vielleicht als eine Art Uniform sehen würde. 

Auf ihrem gewagten Outfit stand ein Name. Judith Junks. 

 

Natürlich stürmten die vier Jungs sofort zu ihr. Auf einmal war ich ganz uninteressant für sie geworden. 

Ich wollte ihnen unauffällig folgen, doch beim Vorbeigehen bemerkte ich, wie Markus neben mir regungslos in sich verschwand. Er hatte einen mörderischen Blick drauf. 

“Ist was?!” 

Markus: “...nein. Los komm.” 

 

Noel: “Hey, entschuldigen Sie... Was geschieht hier?!” 

Judith: “Oh, hast du nichts gehört, Kiddo?” 

Sie hob ihr Megafon wieder an und zielte es in Richtung Noel. 

Judith: “WIR...! SPERREN...! DEN...! PLATZ...! HIER...! AB!” 

Der Schmerz, den der Lärm erzeugte, zwang ihn sich die Ohren zuzuhalten. 

Noel: “Ahhhh! Taub bin ich nicht! Wozu das ganze?!” 

Judith: “Ich fürchte, das hat dich junger Mann nicht zu interessieren...” 

 

Noah: “Und ich fürchte, dass sie sich falsch fürchten, Madam!” 

Judith: “Huh!?” 

Noah grätschte sofort in ihre Konservation rein. Wir alle wussten, was das bedeuten würde. Irgendwie angegriffen von seinem Auftreten biss sie direkt in seinen Köder und warf, ohne auch zurückzublicken ihr Megafon hinter sich und preschte stracks auf unserem Phrasendrescher zu. 

Noah: “Rein logisch betrachtet, wäre es nicht sinnvoller, wenn alle zumindest eine Ahnung haben, was gerade geschieht?” 

Judith: “Hahaha! Na klar, sicherlich...” 

Er schaute sie genauso todernst an wie mich gerade noch zuvor. Heute hätte man meinen können, waren seine Gesichtsemotionen überraschend eintönig. 

Judith: “Oh, du meinst das wirklich so? Hahaha... Schon irgendwie süß...” 

Die junge Frau packte ihre Hand auf seinen Kopf und tätschelte ihn wie einen Hund. Noah machte leicht verärgert einen Satz zu Seite. 

 

Noah: “Ich verstehe nicht, was an meiner Proposition süß sein soll...” 

Judith: “Hör mal, Kiddo... Hier geschehen gerade gefährliche Erwachsenendinge, die du mit deinem kleinen Köpfchen noch nicht mal richtig begreifen kannst, auch wenn ich sie dir erzähle... Und selbst wenn ich es doch täte, sie so schrecklich für dich zu erfahren wären, dass du mit Sicherheit dich vor Angst anpieselts und dann flitziblitzi zu deiner Mami krabbeln würdest...” 

Die Polizistin beugte sich präpotent über Noah. 

Judith: “Und jetzt streng mal dein mickriges Hirnle an... Wie ihr hier ja so schön zu sagen pflegt...” 

 

Sie tippte sich dreimal an die Schläfe ihres Kopfes. 

Judith: “Was würde also passieren, wenn ich allen anwesenden Rotzebälgern hier mitteilen würde, dass wir kopfüber in einen weiteren Katastrophentag geraten, der den gestrigen wie ein harmloses Schauspiel aussehen lassen wird?!” 

Der fegende Wind kitzelte ihr leicht die Nase. 

Judith: “Ich gib dir einen Tipp... Es fängt mit P an und nein, es hört nicht mit ...enis auf. Auch wenn mehr als die Hälfte der Buchstaben übereinstimmen...” 

 

Noah schmiedete eine ganz fürchterlich närrische Fratze, die mich wundern ließ, was er sich gerade ausgedacht hatte. 

Noah: “Egal, was diese Nachrichten sind, sie werden mich wohl kaum mehr entstellen können als ihr Gesicht...” 

Professionell lächelte sie die Provokation einfach ab. 

Judith: “Oh, ist das der Neid eines Knirpses, der hier so müffelt? Keine Sorge, irgendwann wird dir sicherlich auch noch ein Schniedel wachsen...” 

 

Noah schien mit jedem weiteren Austausch noch verärgerter zu werden, als er ohnehin schon war. Er war irgendwie überhaupt nicht er selbst. Ich bekam Zweifel, ob er aufgrund seiner lebhaften Emotionsgeladenheit heute überhaupt sein volles Potenzial ausschöpfen kann. Die währende Situation ergriff ihn zutiefst und das merkte man. 

Noah: “Pah! Was wollen sie mit ihrer gespielten Arroganz überhaupt erreichen?! Haben sie alle eigentlich gar nichts aus den Fehlern von gestern gelernt?! Oder leben sie einfach mit der Schuld, die sich wie ein Fluch auf eure Schultern herablässt und hoffen zuletzt nur noch darauf, dass, wenn alles vorbei ist, ihr eure schlechten Gewissen später einfach wegwichsen könnt!?” 

Diese Äußerung verärgerte nun auch die Polizistin. 

Judith: “Von welcher Schuld?! Von welchen Fehlern?! Welches Gewicht soll dieser abfällige Rotz, der aus deinem vorlauten Fresswerk rattert, schon halten, Freundchen?!” 

Ihre Hand reichte zu ihrem Herzen. 

 

Judith: “Ist dir kognitiv im Klaren, wie viele Menschen ihr Leben jeden Tag riskieren, nur um kleinen Welpen wie dir ihre tägliche Schüssel zu ermöglichen?” 

Noah: “Ja, das ist mir bewusst... Daher verstehe ich ja nicht, warum die Verantwortlichen immer so dumme undurchdachte Entscheidungen treffen, die das Vollbrachte aller missachten... Nein, meist selbst mit Füßen treten...” 

Judith: “Knrr...”, knirschte mit den Zähnen. 

Noah: “Ihr Schweigen bewei---” 

Judith: “GLAUBST DU WIRKLICH DAS WÄRE SO EINFACH?!! DAS ALLES SO ENDET WIE MAN ES SICH VORSTELLT NUR WEIL MAN DER ANNAHME IST ALLES DURCHDACHT ZU HABEN?!!” 

Noah: “JA, DAS GLAUBE ICH, WEIL ICH WEISS, DASS ES SO IST!!!” 

Auge um Auge, Zahn um Zahn standen sich beide nun entgegen. Keiner der beiden wollte sich eingestehen, dass er falschliegt oder zumindest übertrieben hat. Einzig und allein die Absperrung zwischen ihnen verhinderte nun, dass sie sich in die Fugen bekamen. 

 

Judith: “Knirps, du irrst dich gewaltig... Und ich werde es dir beweisen...” 

Noah: “Ach, bitte... Wie wollen sie das denn anstellen?!” 

Judith: “Tss, hier... Sei mein Gast...” 

Sie griff in ihre Uniform und warf, was aussah wie eine Dienstmarke zu ihm hin. 

Judith: “Was sollen diese Verantwortlichen, von denen du sprachst, an deiner Stelle jetzt nun tun?” 

Noah: “Das, was ich von Anfang an vorgeschlagen habe... Aufklärung schaffen! 

Judith: “Nur damit die Plebs sich hier vor lauter Panik gleich die Köpfe einschlagen? Danke, darauf kann ich verzichten...” 

 

Noah: “Sind sie eigentlich durch den ganzen Hochmut blind vor den Augen geworden?! Schauen sie sich doch einmal um! Die Panik, die sie so sehr versuchen zu verhindern, ist doch schon längst ausgebrochen! Niemand wird ruhig bleiben können bei so einer Aktion, die sie hier abziehen!” 

Er tat es seiner Gegenseite gleich und griff sich ans Herz. 

Noah: “Genauso wie gestern keiner ruhig bleiben konnte, als wir den Ausbruch einer Macht erlebt haben, der jedes Mittel recht war, ihren Willen aufzudrücken...” 

Seine Worte schnitten tief in uns alle. Die ganzen Schüler, egal welchen Alters, waren durch das plötzliche Auftreten der Polente ziemlich beunruhigt worden. Nach den Geschehnissen von gestern fürchtete sich jeder vor einem weiteren Unglück. 

 

Als Letztes zeigte er in die Menschenmasse. 

Noah: “Doch all diese Panik ist es vielleicht wert, wenn wir in diesem Getümmel voll mit Hoffnung gefüllten Menschen, die eine entscheidende Person finden, derer Weg vielleicht bisher auch so unscheinbar ausgesehen haben mochte, aber ab hier nun umso einschneidender sein wird, wenn sie dazu fähig sein wird, das Blatt zu wenden und unser aller Geschichte weiterzuschreiben...” 

Judith: “...” 

Noah: “Hm, was sagen sie?” 

Judith: “Das du dich mit deinem ganzen Poesiegestammel für schlauer hältst, als das du am Ende bist... Ganz egal was du mir auch erzählen magst, trotzdem werde ich nicht streng vertrauliche Informationen mit ein paar Milchbuben teilen. Das müsstest selbst du kapieren...” 

 

Marcus: “Es ist doch offensichtlich, dass es mit dem Zug zu tun hat, der jeden Moment hier ankommt. Ansonsten hätten sich ihre Leute nicht so beeilen müssen, alles abzusichern...” 

Nun schreckte Noel auf. 

Noel: “Oh, verdammte Scheiße... Was genau geschieht hier?! Bitte, ich muss es wissen! Ich flehe sie an, wenn sie sicher---” 

Noah hob seinen Arm hinter sich vor Noel. 

Noah: “Sie sehen, wir werden nicht aufgeben, bis sie nicht aufgeben!” 

 

Judith stampfte ihre hohen Absätze in ein Stückchen Grasboden, dass aus dem Pflasterstein sprießte. 

Judith: “Ahh... verdammte Bälger! Wie ihr wollt... Ihr könnt eh nichts mehr anrichten, also macht es keinen Unterschied für mich...” 

Ihre Augen funkelten im Morgenlicht. 

Judith: “Und dein Gesicht zu sehen, Knirps, wenn dich die Verantwortung übernimmt, wird mir wahrlich eine Genugtuung sein...” 

 

Sie beugte sich über die Absperrung zu uns rüber. Leise, ruhig, aber bestimmt flüsterte sie zu uns rüber. 

Judith: “Der Zug, der in einigen Minuten hier am Perron vorbeikommen soll... Er kann nicht mehr angehalten werden...” 

Noel: “Was!?” 

Auch wenn ich so was gegeben der Situation schon befürchtet hatte, wollte ich es nicht wahrhaben. Die Ausgeburt von Terror breitete sich nur unschwer zu erkennen, in all unseren Gesichtern aus. 

 

Judith: “Der Zugführer hat jegliche Kontrolle über seinen Metallriesen verloren. Die Bahn wird von einer unbekannten Quelle irgendwo her angetrieben und gesteuert. Bisher gab es keine erfolgreichen Versuche, den Zug von außerhalb aufzuhalten.” 

Bewusst zog sie ihre Polizeimütze über die Augen. 

Judith: “Ja, und von innerhalb sieht es noch düsterer aus. Die Notbremse, die für so eine Situation eigentlich ausgelegt ist, schafft es nur, den Wagen kurz zu bremsen, bevor er wieder richtig Fahrt aufnimmt...” 

Bedacht leckte sie sich ihren rechten Handrücken. Fast schon antörnend passierte ihre Zunge die Fingerknochen ihrer Klaue. 

Judith: “Oh... Die Verzweiflung, die die Passagiere gerade erfahren müssen. Allein die Vorstellung... Egal, was sie machen... Egal, was sie gemacht hätten... Egal, was sie noch machen wollten... Mit Ihrem Einstieg in den Zug ist das alles obsolet geworden...” 

 

Als Letztes zeigte sie auf die Schienen hinter sich. 

Judith: “Alles, für was sie stehen, ist nun abhängig von dieser einen Fahrt... Diese Schienen, die nur einen Weg kennen... Dieses Schicksal, das nur eine Richtung zu haben scheint...” 

Gefühlvoll fasste sie sich ans untere Ende ihres Rockes. 

Judith: “Ahh... Ist es nicht einfach herrlich?!” 

Wir alle waren wie paralysiert. Ich konnte nicht anders, als die Reaktionen der Jungs zu beobachten. Noel schauderte von der plötzlichen Erfahrung. Marcus schluckte leise in sich rein. Noahs Gesicht zog sich noch weiter zusammen. Jakobs Brille rutschte ihm von der Nase. Ja, selbst Markus müde Augen weiteten sich vor Schreck. 

 

Judith: “Wissen ist für wahr ein Fluch... Eure Gesichter beweisen mir nur wieder, wie närrisch jungfräuliche Naivität sein kann... Und wie sie verkommt, wenn sie realisiert, wie klein man in dieser rücksichtslosen Welt doch wirklich ist...” 

Keiner wollte sich ihr widersetzen. Keiner wollte sich ihr entgegenstellen. Nur Marcus brachte als Einziger den Mut auf, etwas zu sagen. 

Marcus: “Und, wenn es keine... keine Hoffnung mehr für diese Menschen gibt... Warum... Warum seid ihr überhaupt noch hier!?” 

Judith: “Um den möglichen Kollateralschaden so minimal wie möglich zu halten, natürlich...” 

 

Noah und seine Silberzunge hatten es geschafft, Judith die schreckliche Nachricht zu entlocken. Immer wieder aufs Neue erstaunt es mich, wie ihm das gelingt. Doch die erlangten Informationen erzeugten in uns allen große Furcht. Denn wir wussten alle, in was das Enden würde. 

Sollte der Zug nicht gestoppt werden können, wird dieser spätestens in der Endstation entgleisen und alle Passagiere werden mit Karacho ins Bahnhofgebäude sausen. Natürlich wollten wir das alle verhindern. Zumindest dachte ich das. 

 

Noah: “Jakob!”, schallte Noah mit großer Wut. 

Jakob: “Schon unterwegs!” 

Während ich noch starr stand, nahm er die Beine schon in die Hand und entfernte sich augenblicklich. 

Judith: “Huh? Wo will euer Freund hin?” 

Noah: “Das geht sie einen Scheiß-Dreck an! Wenn sie glauben, ich lasse mich davon unterkriegen, dann sind sie es, die sich irrt...” 

Judith blickte ihn ernst in die Augen und streckte ihren Arm hinter Jakob her. 

Judith: “Schnappt mir diesen Jungen! Lasst ihn auf keinen Fall entkommen!”, rief sie ihrem um sich herumstehenden Gefolge zu. 

 

Jakob ist nicht der beste Läufer, doch er besitzt lange Beine, die es ihm erlauben, viel Weg in wenig Schritten gutzumachen. Die Männer in Blau jagten ihn mit nicht viel Erfolg. 

Judith: “Sagt mir... Was habt ihr Bälger vor?!”  

Lautlos zog sie ihre Waffe. 

Judith: “Ich werde nicht zögern, euch alle festzunehmen, wenn ihr die Polizeiarbeit in irgendeiner Weise behindert!” 

“Sie sollten ihren Fokus lieber darauf konzentrieren, den Zug zu stoppen!”, rutschte es aus mir raus. 

Judith: “He... Noch so ein Hund, der mich anmaulen will, wie ich meine Arbeit zu pflegen habe?! Ich wusste nicht, dass dieses Kaff mit lauter Streunern gefüllt ist...” 

Markus & Marcus: “Idiot!”, zischte es mir um beide Seiten. 

 

Judith drehte sich zu mir um. Ich hatte mich bisher extra im Hintergrund aufgehalten, um nicht aufzufallen. Doch den letzten Kommentar konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Ihr verwirrter Anblick verriet mir sofort, dass sie mich wieder erkannte. 

Judith: “Huh... oh... natürlich... Jetzt macht alles Sinn! Haha... haha... haha... hahaha! Wen haben wir denn hier?! Ist das nicht der Zauberjunge, der gestern Berserker durch Stadt und Schule wandelte? Hahaha! Ja, das musst du wirklich diesmal sein... Du hast ja denselben Pullover... Hahaha...” 

Sie brachte in furiosem Gelächter aus, dass einer Bestie glich. 

Judith: “Kein Wunder, das ich gerade hier auf dich treffe! Tut mir ja echt leid, aber du bist so unscheinbar, dass ich dich bis gerade gar nicht erkannt habe...” 

Wild schlug sie ihre Faust in die linke Hand. 

Judith: “Aber ja, das erklärt auch, warum wir dich gestern nicht fanden. Ach, wie schön, dass du entschieden hast, mir direkt in die Arme zu laufen. Aber nur um sicherzugehen, dass du es auch wirklich bist... Komm, lass mich dich umgarnen...” 

 

Mit einem Satz durchbrach sie die Absperrung und packte mich an ihre Brust. Keine Sekunde später tastete sie mit ihrer Nase meine Haare ab. 

Judith: “Ja, eindeutig identisch... Perfekt! Noch ein Problem weniger, um das ich mich kümmern muss. Selbst die Götter müssen mittlerweile eingestehen, dass ich in letzter Zeit einen ziemlichen Lauf habe, nicht wahr? Haha! Sofort festnehmen den Jungen! Und seine Freunde gleich mit...“ 

Sie zeigte mit ihrem langen Fingernagel auf mich wie jemand, der mit seiner gewonnenen Trophäe protzte. Ihre Stimme durchnahm innerhalb wenigster Worte einen Emotionswechsel von überrascht, zu verrückt, zu gehässig, zu erleichtert und dann zu ernst. 

(“Egal, was ihr Job ist, sie muss echt mit Herz und Seele dahinterstehen...)”, realisierte ich überwältigt. 

 

Markus, der sich bis gerade zurückgehalten hatte, tauchte plötzlich von hinten auf und zog mich zu Judiths Überraschung an sich ran. Ihre Mütze fiel beim Entreißen auf dem Boden. 

Judith: “Huch?” 

Markus: “Keine Chance! Das werde ich nicht zulassen...” 

Verwundert über Markus flinke Hände wandte sie ihre Aufmerksamkeit nun auf ihn. 

Judith: “Und wer magst du bitte sein, dass du zu glauben scheinst, irgendetwas zu bestimmen?” 

Markus: “Wer ich bin, he? Lassen sie das einzig und allein meine Sorge sein...” 

Er stellte sich mit den Armen auseinandergestreckt schützend vor mich. 

Markus: “Ich habe schon zugelassen, dass ihr mir einen Alex wegnimmt! Nichts in der Welt wird mich dazu bringen, dass ihr auch den anderen noch unter eure wissbegierigen Finger kriegt!” 

 

Judith: “Ah, redest du etwa von dem mimetischen Klotz von gestern? Ja, ich fand es echt schön, wie kooperativ er sich doch gestern am Ende herausstellte, als wir ihn pennend in dem Drecksloch fanden. Aber zugegeben, dass alles lief viel zu gut, um wahr zu sein...” 

Fingerspreizend fasste sie sich an die Stirn. 

Judith: “Woher hätte ich auch ahnen können, dass ein paar Knirpse so schlau sein können und ihre Kleider tauschen... Als zu schade für euch, dass ich euren kleinen Trick sofort durchschaut hatte...” 

(“Kleider tauschen? Meint sie etwa, dass ich meinen Pullover Alex dagelassen hatte... Wenn ja, war das mehr Glück als Verstand...”) 

 

Ein ganz heimtückisch sadistisches Schmunzeln überlief ihr Gesicht. 

Judith: “Oh, könnte es sein, dass du der Junge warst, der sich gestern hinter dem Felsen versteckt hatte?” 

Markus: “Tss...”, schnalzte Markus. 

Judith: “Hihi... Du glaubtest doch nicht wirklich etwa, du wärst mir nicht aufgefallen...” 

Ganz angetan befeuchtete sie ihre mit Lippenstift aufgetragenen Lippen ihrer in einem viel zu langanhaltendem Tempo. 

Judith: “Ich hatte nur sofort bemerkt, dass du nicht unser gesuchtes Ziel sein konntest und habe daraufhin meine Leute weggeschickt, in der Hoffnung, du würdest uns später zum richtigen Jungen führen...” 

 

“Ich verstehe nicht... Markus, was ist mit Alex passiert?!” 

Judith: “Oh, keine Sorge! Ihm geht es gut... noch... Wir hatten gestern nur ein sehr langes... ähm... Gespräch zu zweit und ich muss zugestehen, er hat echt gut durchgehalten. Hahaha...” 

Sie hob ihre Mütze wieder vom Boden auf und schloss nachdenklich ihre Augen. 

Judith: “Doch hab jetzt keine Angst. Du wirst ihn sicher bald in seinem neuen Aufenthalt besuchen kommen. Und wenn du ein ganz guter Junge sogar bist, darf er heute vielleicht noch nach Hause... oder auch nicht.... Hahaha...” 

 

Ich wusste, sie spielte mit meinen Gefühlen. Genau wie jeder andere bisher auch. Doch diesmal musste ich einen kühlen Kopf bewahren. Ich durfte unter keinen Umständen noch mal zulassen, dass diese Kraft Überhand gewinnt. 

Alex hatte sich gestern für mich geopfert, damit ich genügend Zeit habe, mich zu beruhigen und neu aufzustellen. Auch wenn ich mich deswegen so unendlich schuldig fühlte, konnte ich diese Chance jetzt nicht verkommen lassen. Nein, gerade deswegen durfte Aufgeben keine Option für mich sein. 

Zwei Polizisten kamen auf Markus und mich zu. Die Situation fühlte sich eigenartig vertraut an. Doch mir was bewusst, dass ich mich nicht wie gestern wehren könnte. 

 

Noel: “Stopp! Lasst Alex in Ruhe! Der Zug muss aufgehalten werden! Und er ist unsere einzige Chance...” 

“Genau, das was er sagt... Moment was?!” 

Judith: “Du hast wohl zu viele Filme geschaut, mein Junge! Ich weiß genau, worauf du hinaus willst... Aber streich dir diese närrischen Fantasien sofort aus deinen nicht entwickelten Gehirnzellen! Das werde ich sicherlich nicht zulassen!” 

Marcus: “Aber sie haben ihn auch gestern gesehen, oder? Wie er eine ganze Polizeieinheit hat alt aussehen lassen... Wie er mit Leichtigkeit bewaffnete Personen in Sekundenschnelle ausgeschalten hat... Wie er eine ganze Straßenkreuzung praktisch zwang, in Kontamination versetzt zu werden... Sie wissen das er in der Lage dazu ist!” 

“Bin ich...?” 

 

Judith zuckte wie besessen mit den Augen.  

Judith: “Das ist doch Wahnsinn! Glaubst du wirklich, ich lass mich auf eure märchenhaften Fantasievorstellungen ein?! Die-Dieser Dreikäsehoch soll einfach so einen Zug zum Stoppen bringen?! Am besten gleich noch mit seinen nackten Patschehändchen, oder?!” 

Zweifel hegend, schüttelte sie ihren Kopf. 

Judith: “Du weißt gar nicht, in was für Schwierigkeiten ich gerate, wenn das schief gehen würde...” 

Noah: “Hört sich für mich an, als hätte da jemand Angst, sich ins Röckchen zu pieseln...” 

 

Judith: “Angst?! Glaub mir, wenn ich Angst hätte, dann wüsstest du das...” 

Noah: “Ach, wirklich... 

Judith: “Arrgh! Du gehst mir langsam ziemlich auf den Zeiger, Knirps! Ich werde nicht einen Schüler auf Schienen stellen, um 120 Tonnen, die eine Maxgeschwindigkeit von 80 km/h draufhaben, zu stoppen! Ich weiß ja nicht, wie das bei euch Salatköpfen aussieht, aber da spricht zumindest mein gesunder Menschenverstand dagegen!” 

Noah: “Auch nicht, wenn er ihnen verspricht, sich im Nachhinein freiwillig zu stellen?” 

“WAS!?” 

 

Judith: “... ... ...” 

Noah: “Sie wissen, wie schwierig es für sie werden kann, ihn so einzufangen... Mit der Geschwindigkeit und Kraft, die ihm diese Macht erlaubt, ist es wahrscheinlich einfacher, Moby Dick zu jagen...” 

Noah schnipste mit den Fingern. 

Noah: “Und, wenn sie glauben, sie werden den Jungen einfach überlisten können, dann irren sie sich gewaltig. Ich kenn ihn jetzt schon, mein halbes Leben und der ist gewiefter und sturer als jeder Querulant, der mir je begegnetet ist...” 

(“Hehe... Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment sehen soll...”) 

Judith: “Ok, Knirps... Du hast mein Interesse geweckt... Erzähl, was hat dein naives Hirn ausgebrütet?” 

 

Noah grinste von einem Ohr zum anderen. 

Noah: “Sehen sie... Die ganze Aktion ist eine Win-Win-Situation. Sie lassen ihn den Zug aufhalten mit der Versicherung, dass er sich im Nachhinein stellt. Sollte er es schaffen, wird das sicherlich Auswirkung auf die breite Bevölkerung und ihrer Einstellung bezüglich der schamvollen Darstellung des sogenannten “nutzlosen” Beamtentum gestern haben...” 

Judith: “Und was, wenn nicht...” 

Noah: “Falls er es nicht schafft, ist das Vertrauen zur Polizei zwar nicht wieder hergestellt, Alex ist ihnen aber trotzdem sicher...  

Judith: “Wie das?” 

Noah: “Übernimmt er sich hier, wird er so erschöpft enden, dass es ein Leichtes sein wird, ihn zu fassen...” 

 

Judith: “Hmm... Woher weiß ich, dass er am Ende sein Wort hält, wenn er sich erfolgreich zeigen sollte?” 

Noah: “Ich glaube, darum müssen sie sich wirklich keine Sorgen machen...” 

Beide schauten mich an, als hätten sie entweder gerade ziemlichen teuren Käse gekauft oder Amerika als Zweites entdeckt. Ich war mir nicht sicher. 

Judith: “Auch wenn ich es nicht für gut heißen kann...” 

Ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnte, das war es, was Noah ihr vorgelegt hatte. Es hatte eine Weile gedauert, aber nun hatte er sie endlich für sich gewinnen können. Verschmitzt lächelte sie und hob ihren Arm, als würde sie mich anfeuern wollen. 

Judith: “Go! Gib dein Schlimmstes, Junge!” 

 

“Leute, ich weiß wirklich nicht, ob ich in der La---” 

Noel: “Alex, jetzt liegt es an dir! Du wirst nur einen Versuch haben und der muss ein Erfolg werden!” 

Marcus: “Du hast die Chance, drei Waggons voller Menschen zu retten! Vergeude sie nicht!” 

“Jungs, bitte... Ich möchte keinen Druck machen, aber ich weiß nicht einmal, wie ich diese Kraft wieder reaktiveren kann...” 

Markus, der bis gerade wieder in Gedanken vertieft war, schaute mich an und packte mir an die Schulter. Er atmete einmal tief ein und wieder aus. 

Markus: “In Momenten wie diesen ist es egal, wie die Sachen funktionieren, nur das sie funktionieren! Du bist der Einzige, der diese Personen jetzt der Gefahr entreißen kann... Vergiss das nicht!” 

Darüber hatte ich noch keine Zeit gehabt nachzudenken. Ich hatte nun das Leben von einer Menge Menschen in der Hand. Darunter auch... 

 

“ISA!!!” 

Markus: “Huh?” 

(“Isa ist in diesem Zug! Ich darf nicht zulassen, dass ihr was geschieht. Nicht... nicht, wenn ich es verhindern kann!”) 

Isa war auch jemand aus meiner Klasse. Ich hatte mich eigentlich bis dahin immer gut mit ihr verstanden und so wusste ich auch, dass sie sich in der Bahn befand. Ich nahm augenblicklich mein Handy aus der Tasche heraus und suchte sofort in den Kontakten nach ihrer Nummer. 

“Bitte geh ran! Bitte geh ran...” 

Isa: “H-Hallo?” 

Zuallererst bemerkte ich die Nervosität in der Stimme. 

“Gott sei Dank! Hi Isa, hier ist Alex...” 

Isa: “Alex?!” 

“Ja, ich bin es...” 

Isa: “Alex, es ist echt erschreckend... Erst sind die Lichter hier drinnen ausgefallen, dann hielt der Zug nicht mehr an den Haltestationen an und nun funktioniert die Notbremse nicht mal richtig...” 

 

“Ja, ich weiß das mittlerweile... Doch alles wird gut, ok!?” 

Isa: “Du hast leicht reden... Die Stimmung hier wird langsam richtig ungemütlich... Irgendwie wirkt das gesamte Feeling im Zug sehr bedrückend. Alle wirken von Minute zu Minute immer mehr niedergeschlagen...” 

(“Feeling...?”) 

Isa: “Der Lokführer hat sich auch noch nicht per Durchsage für die Anomalien entschuldigt... Daraufhin begannen manche angstverzerrt und rasend gegen die Führerkabine zu klopfen... Ich mein es ist auch kein Wunder, das die Leute hier langsam Panik schieben... Aber trotzdem, dass man gleich vom schlimmsten aus geht...  Selbst i-” 

“Keine Sorge! Ich werde mich darum kümmern!” 

Isa: “Was meinst du mit kümmern?! Stell bitte nichts Wahnsinniges so wie gestern an...” 

“...fürchte, das kann ich nicht versprechen...”, sagte ich kleinlich ins Mikrofon. 

Isa: “Wie bitte?! Ich konnte dich grad nicht verstehen...” 

 

Lia: “Ha! Natürlich nicht... Ist ja mal wieder typisch, wie alle in solchen Situationen erst mal das Telefonnetz überlasten... Schau, wie sie versuchen, mit ihren Handys irgendwen zu erreichen... Als ob das irgendwas bringen würde...” 

Fina: “Hey, mit wem sprichst du?” 

Isa: “Mit Alex...” 

Lia: “Er ist hier?!” 

Fina: “...Echt? Wie sehr wundert dich das wirklich?” 

 

“Hey, ich höre noch jemanden... Ist noch wer bei dir, Isa?” 

Isa: “Ja, Fina und Lia... Wieso?” 

Zwei weitere Mitschüler aus unserer Klasse. 

“Nur so... Gut zu hören, dass du nicht allein dort bist...” 

Isa: “Ähh... ich weiß nicht, ob das in dem Fall wirklich gut ist...” 

“...he... ja, natürlich...” 

 

Judith: “Ät-ehm... Eure Zeit wird langsam knapp, Jungs! Wollt ihr den ganzen Tag nur dumm rumstehen?! Das wäre mir natürlich ganz recht... ” 

Noah: “Nein, eigentlich hatte ich gerade vor abzuhauen... Zur Schule komme ich wahrscheinlich heute eh nicht...” 

“Hä, was meinst du?!” 

Noah: “Ich bin raus, Leute! Tschö...” 

Noah drehte sich um und begann langsam, sich in Richtung nach Hause wieder zu laufen, während er verhöhnend mit seinem Arm winkte. 

“Hey, das ist nicht dein Ernst, oder?! Du kannst doch jetzt verdammt noch mal nicht einfach so verschwinden?! Weißt du, wie viele Menschen in Gefahr sind?!” 

 

Meine Worte reichten ihn kein Stück. Lässig schlenderte er einfach vom Geschehen fort, ohne mir jegliche Beachtung zu schenken. Noel und Marcus mischten sich nicht ein. Sie wussten genau, was für eine Person er manchmal sein kann. Doch ich konnte nicht anders, als mich im Stich gelassen zu fühlen. 

Judith: “Oh... bekommt das Lämmchen schließlich doch kalte Füße? Doch nicht so mutig wir sind, huh?!” 

Noah: “Hätte ich Angst, dann wüssten sie, dass ich Angst habe...” 

Er blieb stehen, drehte sich um und zeigte direkt in ihre Augen. 

Noah: “Nur weiß ich, wenn es Zeit für mich ist, die Bühne zu verlassen...” 

Er verschwand um die nächste Ecke. 

Judith: “Pfff... Welch billiges Imitat...”, murmelte sie, während sie sich auch umdrehte, um Augenzeichen zu ihren Hilfskräften zu machen. 

 

“Ihr bleibt aber hier, oder?” 

Marcus und Noel nickten. Mein Gefühlslevel war kurz vor seinem Limit. Doch ich wusste, dass ich mich noch ein letztes Mal zusammenreißen musste. 

Ich blickte mich auf dem Bahnhof um. Das Ganze fühlte sich surreal und unmöglich an. 

(“Arrgh! Das ist die schlimmste Zeit für einen Black-Out jetzt, Alex...”) 

Es war klar, dass ich in ernsthafter Not nach einem Plan war. Einen ziemlich guten Plan... Vielleicht den besten, den ich je bisher gehabt habe. Doch natürlich fiel mir gerade nichts ein. 

 

“Markus, wie realistisch schätzt du es ein, ist diese Idee zu bewältigen...?” 

Markus: “Was meinst du?” 

“Nur mal theoretisch, ich kriege es irgendwie hin, diese Kräfte noch mal zu aktivieren...” 

Markus: “Ja...?” 

“Denkst du, sie wären stark genug, um den Zug aufzuhalten?” 

Markus: “Und das fragst du mich?! Ich habe nicht einen Hauch von Ahnung, wie sie funktionieren könnten...” 

Ich schaute ihn verzweifelt an. Mit seinen Augen rollend schnaufte er leise in sich hinein. 

Markus: “ok... auf Basis, was für einen Schaden du bisher angerichtet hast, könnte dies durchaus ein Kaliber schwerer sein als gestern. Daher würde ich alles versuchen, dir den Aufprall mit dem Zug zu vereinfachen...” 

 

(“Und wie soll ich das jetzt wieder anstellen?! Mit jeder Sekunde scheint mir das Ganze noch abgefahrener zu werden...”) 

Noel: “Hey, mach dir keine Umstände, dich nicht auf uns verlassen zu müssen, ok? Wir sind da, wenn du uns brauchst, nicht wahr?!” 

Er stupste freundschaftlich den Arm von Marcus an. 

Marcus: “Auf jeden Fall! Wenn es etwas gibt, was ich tun kann, dann werde ich es auch machen...” 

Marcus hatte für jetzt seinen Frust zu unserem schweigenden Verhalten bezüglich der gestrigen Ereignisse beiseitegelegt, um sich auf das Bevorstehende zu konzentrieren. 

Und Noel hatte trotz dessen, dass ich ihn gestern auf der Bank zurückgelassen hatte, seine Entscheidung, mir zu helfen, das Gesamte bis zum Ende durchzustehen, nicht geändert. 

(“Sie müssen echt auch immer das Beste aus jeder Situation rausholen... ”), dachte ich zu mir selbst. 

Noel: “Vergiss nicht... Du bist nicht allein!” 

“Danke, Leute...” 

 

Mein Verstand versuchte in kürzester Zeit einige Ideen zusammen zu würfeln. Doch selbst in den eigenen Gedanken klangen diese schon so verrückt, dass sie nur einem Individuum hätten einfallen können. Meiner Wenigkeit...  

(“Ok, Konzentration... Mit Noel und beiden Markussen hier am Bahnhof... Isa, Fina und Lia im Zug... sind die verfügbaren Spieler auf zwei verschiedene Hälften verteilt... Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht gegenseitig zuspielen können, oder?”) 

Nach einer Lösung suchend begann ich, was auch immer mir gerade in den Kopf kam, zu überschlagen und in ein Szenario zu setzen. So versunken bemerkte ich nicht mal, wie ich mich langsam in Kreisen drehte. 

(“Alles klar, ich glaube, das könnte funzen...”), stöhnte ich innerlich, während ich mich nachdenklich am Kinn kitzelte. 

Noel: “Sieht so aus, als hättest du dir endlich was ausgefertigt...” 

“Ja, sieht danach aus...” 

Marcus: “Dann schieß los!” 

 

“Folgender Plan... Wie es aussieht, werde ich eines jede Hilfe benötigen...  

Isa: “Hey, alles in Ordnung? Was ist denn los?” 

(“stöhn... Doch zuallererst...”) 

Unbewusst hielt ich den Hörer plötzlich näher ans Ohr. 

“Isa, hör mir bitte zu! Ich möchte das einer im Zug die Notbremse zieht, sobald ihr vor dem Gleis in Schwinderlingen seid, alles klar?” 

Isa: “Ok...”  

“Sicher?” 

Isa: “Ja, ich werde tun wie du sagst... Aber du musst mir versprechen, dass du auf dich aufpasst...” 

“Keine Sorge... Werde ich...” 

 

Noel: “Und als nächstes?” 

“Als Nächstes werde ich dir Marcus gleich mein Handy geben. Danach läufst du so schnell, du kannst dem Zug die Strecke entgegen, ungefähr bis zum Signal in der Ferne. Sobald du den Zug kommen siehst, gibst du Isa das Zeichen für die Notbremse. Ich glaube, du kannst am besten von uns allen abschätzen, wann der richtige Moment dafür ist.” 

Marcus: “Verstanden...” 

“Doch zuvor müssen wir uns um die Extrawaggons kümmern. Allein nur gegen ein Drittel des Gewichts zu stemmen, wird meinen Körper schon ungemein entlasten. Isa, könntest du mir Lia an den Hörer geben?” 

 

Isa: “Hier, er möchte mit dir reden...” 

Lia: “Ja, Alex?” 

“Hi, wie ist die Situation?” 

Lia: “Wie soll sie verdammt schon sein?! Was willst du?!” 

“Ich möchte das du und Fina zusammen die Zugführerkabine stürmen und die zwei hinteren Waggons abkoppeln. Ich vermute, dass das elektrisch von dort möglich sein wird. Ihr sitzt doch im vordersten Waggon, oder?” 

Lia: “Dein Glück! Du schuldest uns dafür etwas...” 

“Reicht es dir nicht, dass ich dein Leben rette?” 

Lia: “Ha! Übertreib nicht...” 

 

Auf einmal hörte man durchs Telefon, wie eine Scheibe zersprang. 

Judith: “Hey! Was machen die da drinnen?!” 

“Wie lange braucht ihr noch ungefähr, bis ihr da seid?” 

Fina: “Vier Minuten würde ich sagen...” 

“Alles klar...” 

Isa: “Doch bitte pass auf dich auf...” 

 

Ich reichte wie erwähnt mein Handy Marcus, der sich daraufhin sofort los machte, den Zug abzupassen. 

Marcus: “Bis gleich, alle...” 

Noel: “Yeah...” 

Als er weg war, drehte ich mich zuletzt noch zu Noel. 

“Und, nun du...” 

Noel: “Ja?” 

“Meine Kraft wird nicht ewig halten... Sollte irgendetwas im Notfall schiefgehen, möchte ich, dass du mich von den Schienen rettest...” 

Noel: “Ich verstehe... Du kannst auf mich zählen!” 

 

Als Letztes blieb mir dann nur noch eines zu tun. Ich stellte mich auf die Schienen und patschte mir zweimal gegen meine Gesichtsbacken.  

“Nun gut... schluck... Dann ist es jetzt wohl Zeit für Hals und Beinbruch!” 

Jeden Moment sollte der Zug kommen. Verbissen versuchte ich dem Aufeinandertreffen mit einem breiten Grinsen entgegenzublicken. 

“Beginne Projekt: Exodus Tramen!” 

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