top of page

Kapitel II – Kopfüber in den Traum der Gefühle

Ich konnte meine Augen nicht öffnen... 
Ich konnte nichts hören, nichts riechen, nichts schmecken... 
Auch meine Arme und Beine konnte ich nicht fühlen... 
Selbst meinen eigenen Körper... spürte ich nicht... 
Nicht einmal sicher war ich mir, ob ich gerade atme oder nicht... 
Nein, rein gar nichts gab mir die Gewissheit, dass ich wirklich am Leben war. 
Und auch wenn mir jenes Gefühl so gänzlich fremd vorkam, so wusste ich doch aus dieser Finsternis heraus, dass sich nun endlich alles ändern wird. 

 

Ich muss für eine ganze Weile komplett mein Bewusstsein verloren haben. Das Nächste, woran ich mich überhaupt ansatzweise erinnern konnte, war das heftige Schaukeln eines Fahrzeugs. Und obwohl ich keine wirklichen Hinweise darauf hatte, wusste ich ganz gewiss, dass dieses zu einem Rettungswagen gehörte. 

Dabei erinnerte ich mich deutlich, dass ich bisher noch nie in einem gewesen war. Kein mir bekanntes Ereignis meiner Vergangenheit hatte mich je Zeit in einem verbringen lassen. 

Allgemein war alles um die medizinischen Einrichtungen, die sich Krankenhaus, Klinik, Klinikum, Hospital oder was auch immer schimpfen, mir ziemlich fremd. Anders als so manch anderes Kind früher musste ich nie wirklich einen Besuch dorthin tätigen. Dies war vielleicht das dritte Mal, dass ich mich in eines begeben sollte. Zumindest soweit ich mich zurückerinnern kann. 

 

Und die wenigen Male, die ich bisher dort gewesen war, habe ich auch keinerlei gute Erfahrungen gemacht, sodass ich in meinen Erinnerungen eigentlich immer eine unbegründete Angst mittrug, eines Tages dort hingelangen zu müssen. 

Woher also kam dann dieses plötzlich wohlbekannte Gefühl, dass mir den Eindruck verlieh, dass diese Auspowerung Teil meiner selbst war? 

Für mich war klar, dass es mit dieser mysteriösen Kraft zu tun haben musste. Diese Kraft, die es mir erlaubte, so schnell wie der Wind zu laufen oder mit einfachen Tritten Türen in zwei zu zerbrechen. Diese Kraft, durch die ich jene übermenschliche Fähigkeiten erlangt hatte. Diese Kraft, die es mir schien zu erlauben, mein Schicksal zu verändern. 

Allerdings sollte mein geistiger Wachzustand nur für einen ganz kurzen Moment zurückkehren. Denn als ich wieder zu erwachen schien, wusste ich ganz genau, dass ich noch träumen muss. 

 

“Wo... Wo bin ich?” 

Ich befand mich in einem stockfinsteren Raum ohne jegliches Licht. Und auch wenn es nicht wirklich viel zu erkennen gab, das Bett, in dem ich saß und die Buchstabentapete zu meiner Rechten kamen mir doch sehr vertraut vor. 

Es war mein Zimmer. Dennoch, alles Weitere, was sich sonst immer hier befand, war ausgeschwärzt. Trotzdem gab mir die heimische Atmosphäre das Gefühl, im eigenen Schlafgemach zu residieren. 

Plötzlich erschien aus dem Nichts eine Person komplett in Weiß neben mir. Ihr helles Auftreten ließen meine Augen sofort zu ihr wandern. Und obwohl ihr Anblick mich verunsicherte, erkannte ich sie sofort. 

 

“O...ma! Aber wie...?”, winselte ich in mich hinein. 

Ich spürte, wie meine Augen unmittelbar begannen anzuschwellen. 

(“Das kann nicht sein! Wie kann sie so vor mir stehen?! So lebendig... So real... Das muss ein Traum sein! Es kann nicht anders!”) 

Ich konnte es nicht fassen. Wie hätte es auch sonst sein sollen? Nichts in meinem Verstand wollte mir erklären können, was ich gerade sah. Meine Großmutter ist doch schon seit Jahren tot. Wie war es denn überhaupt möglich? 

Ich versuchte meine Arme zu ihr auszustrecken, aber natürlich musste sie gerade weitgenug von mir wegstehen. 

“Ich bin... Ich so dich... Ich froh zu... sehen!” 

Aus meinem Mund kam nur gequirltes Gestammel raus. Ich wusste nicht, wie ich auf so eine Situation reagieren sollte. Egal, wie ich versuchte, Worte zu fassen, sie machten keinen Sinn. Wie hätte ich auch jemals damit rechnen können, dass ich heute mit dem Totenreich sprechen würde? 

 

“Ich habe dir so viel zu erzählen!” 

Endlich brachte ich meinen ersten vollständigen Satz zustande. Und obwohl ich sie bereits mit dem breitesten Grinsen anlächelte, überdeckten meine Tränen langsam mein gesamtes Gesicht. Ich konnte mir selbst nicht glauben, dass ich deswegen so flennen musste. Dann wiederum war es mir auch egal. Ich hatte schon längst genug von dem heutigen Tag. 

Oma: “Es tut mir leid, mein Kind... So viel Zeit bleibt uns nicht.” 

Sie war es wirklich. Bis grade war ich mir nicht sicher gewesen, da mir alles so absurd vorkam, doch ihre Stimme war genauso, wie ich sie in Erinnerung gehalten hatte. Es gab keinen Zweifel. Zumindest für mich nicht. 

 

“Ja, natürlich... Was machst du überhaupt hier?”, fragte ich pflichtbewusst mit leicht durchdringender Bedrücktheit im Tonfall. 

Verzweifelt versuchte ich, mein salziges Augenwasser aus dem Gesicht zu wischen, doch nur mit geringster Wirkung, da die Flut einfach nicht stoppen wollte. Ihr Blick wurde ernst und sie begann drei Finger mit ihrer Hand anzuheben. 

Oma: “Ich bin gekommen, um dich zu warnen. Mit mir werden dich insgesamt drei Personen erwarten... Alex, hör mir zu! Du befindest dich gerade in einer sehr unausgeglichenen Gegebenheit, die gefährlich nicht nur für dich allein werden kann. Ich wurde von deinem Innersten herbeigerufen, damit eine mögliche Katastrophe verhindert wird.” 

 

“Ich verstehe nicht. Was ist denn mit mir los?! Was passiert gerade?!” 

Oma: “Die Worte zu finden, dich hier und jetzt über alles aufzuklären, wird leider ein Ding der Unmöglichkeit für mich sein. Ich hoffe, dass die weiteren Personen, die dir begegnen werden, mehr erzählen können...” 

Sie schaute mich leicht betrübt an. 

Oma: “Aber was ich dir sagen kann, ist, dass es sich um eine Sache des Herzens handelt. Daher ist es von allerhöchster Wichtigkeit, dass du dich beruhigst, Alex! Unter jedem auch so denkbaren Umstand musst du die Ruhe bewahren können!” 

 

Für einen kurzen Moment ließ ich mich meinen gesamten Körper anspannen, um befreiend durch die Nase zu schnaufen. 

“Also... Ich fühl mich ziemlich ruhig. Viele Gedanken schwirren durch meinen Kopf, aber ansonsten geht es mir gut... Insbesondere seitdem du hier bist.” 

Oma: “Wie erfreulich es doch ist das zu hören. Alex, du musst nun dein alles geben... an diesem Gefühl versuchen festzuhalten und nie wieder... nie wieder loszulassen! Verstanden?!” 

Ich war etwas verwundert von ihrer Aussage. Was genau meinte sie denn damit? Welches Gefühl und wie soll ich daran festhalten? Sind Emotionen nicht meist vom inneren Impuls gelenkt? 

Doch ich wollte sie nicht noch mehr verunsichern, da es sehr wichtig erschien. 

 

“Ja, habe ich. Ich werde dieses Gefühl nah am Herzen halten. Eines macht mir dennoch Sorgen. Wer wird noch alles hierherkommen?” 

Oma: “Das wirst du selbst herausfinden müssen, Alex. Auch wenn es dir nicht eingehend bewusst sein mag... Jede dieser Personen hat eine feste Verbindung zu dir. Mag es in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft sein. Und jede dieser Personen steht für eine Angst, die du in deinem Innersten beherbergst.” 

“Eine Angst? Und welche?” 

Oma: “Auch das, mein Kind, wirst du dir nur selber beantworten können...” 

Ich merkte, dass sie irgendwie eingeschränkt war, mir alle meine Fragen zu beantworten. Doch trotzdem wusste ich von ganzem Herzen, dass sie ihr Bestes tat, um mir zu helfen. So wie sie es immer für mich getan hatte. 

 

(“Eigentlich frage ich mich schon, warum das alles hier passiert, aber wenn ich es nicht erfahren kann, dann ist dem ebenso. Auf jeden Fall ist das alles ziemlich verrückt. Doch beschweren will ich mich nicht. Es ist nicht aller Tage, dass deine verstorbene Großmutter wie eine alte Weise aus irgendeinem Märchen in deinem Traum auftaucht...”) 

Oma: “Eine letzte Frage kannst du mir noch stellen, Alex, bevor ich dann wieder verschwinden muss...” 

“Was?! Nur noch Eine?! Was soll ich denn jetzt noch fragen?!!” 

Oma: “Das gilt es für dich herauszufinden...” 

 

Ich überlegte kurz, doch geriet schnell in Panik. Es war einfach zu viel, was ich alles wissen wollte, um es in eine einzige Frage zu packen. Gleichzeitig war ich zu gierig, nur nach einem zu bitten.  

(“Hey, verdammet mich doch... Was führ ich mich ständig auf, als würd’ mich was bedrücken und wenn’s dann drauf ankommt, fällt mir nichts ein!!”) 

Doch um ihren sehnlichen Wunsch nachzugehen, gedachte ich kurzerhand mich zusammenzufassen. 

 

Oma: “Na, uff jetzt...”, bemerkte sie nach einer Zeit ungeduldig. 

Ich kratzte mich lächelnd am Hinterkopf. 

“Entschuldige Oma, meine Tafel ist blank...” 

Sie reagierte keinesfalls erzürnt, doch trotzdem erhob sie ihre Stimme missgestimmt. 

Oma: “Sapperlot, Alexander! Ntsss... Warum wundert mich das gerade kein Stück, Bengel?! 

Ich schaute sie leicht verlegen an. 

Oma: “...sei’s drum...” 

 

Sie drehte sich um, als würde sie weggehen wollen. Auf einmal entdeckte ich am anderen Ende des Raumes ein weißleuchtendes Fenster, von dem ich hätte schwören können, dass es gerade noch nicht da gewesen war. Zottelnd begab sie sich zu es hin und öffnete es. 

Ein schauriger, kalter Wind strömte aus dem Abyssus der Schwärze und durchbohrte meine Brust als ein tiefstechender Schmerz. Gleichlaufend, fast wie von selbst, streckte ich meinen Arm zu ihr aus. 

“Warte, ich habe doch noch eine Frage!!”, schoss es aus mir heraus. 

Sie machte Halt. Ich atmete kurz flüchtig ein und schloss meine Augen. 

 

“Wie geht es dir?” 

Wenn es auch wohl die gewöhnlichste Frage war, die ich hätte stellen können, war ich mir sicher, dass es die einzig Richtige war. 

Es folgte für einen kurzen Moment Totenstille. Nur das harsche Rauschen des Windes war zu vernehmen. 

Oma: “Huh...? Mir?” 

Ich versuchte ihre Reaktion im Spiegelbild des Fensters zu erhaschen. Doch ohne Erfolg. Obwohl ich ihr Gesicht zwar nicht mehr erblicken konnte, war ich mir aber sicher, dass sie lächelte. 

Oma: “...geht’s gut.” 

 

Auch wenn ihre Antwort unbewusst ohne viel Nachdenken aus ihr rauskam, füllte sie mein Innerstes mit Ruhe und Frieden. 

Danach verpuffte sie im eisigen Wind. Ich versuchte ihr aus dem Fenster nachzublicken, doch alles war schwarz. Natürlich verließ ich mein Bett nicht und so schloss sich das Fenster gar wieder von selbst. 

“Heh... Wer mich wohl als Nächstes erwarten wird? Und was hat es bloß mit alldem auf sich, was Oma erzählt hat?” 

 

Mysteriöse Stimme: “Es lässt einen neugierig machen, nicht wahr? Das nicht zu wissen, meine ich...” 

Keine Sekunde nachdem ich meine Gedanken aussprach, da schallte schon aus der Leere, eine passende Erwiderung zurück. Eine Figur, dessen Gesicht und Körper in einen schwarzen Mantel gehüllt war, erschien vor mir. Doch obwohl mir alles über dieses Treffen fremd vorkam, so hatte sich die Stimme schon tief in mein Gedächtnis gebrannt. 

“Du bist die Stimme... von vorhin...” 

 

Mysteriöse Stimme: “Hihihi... Ganz genau! Alex war es, ja? Welch heroischen Akt du doch hingelegt hast, um die Kraft in dir zu erwecken. ‘Wie kannst du es wagen, meine Schwester zu bedrohen!’ Hihihi... Welch klischeehaftes Beispiel von Geschwisterliebe. Mir kommen die Tränen, schluchz... ja wirklich...” 

Es war dieselbe Stimme, die ich gehört hatte, kurz bevor ich die Kontrolle über meinen Körper verloren habe. 

 

“Wer bist du und was willst du von mir?!” 

Mysteriöse Stimme: “Oh, was für ein Stimmungsumschwung... Wer ich bin, willst du wissen? Hihihi... Welch albernde Frage, doch...” 

Die Figur erhob sich leicht und streckte ihre kurzen Arme aus. Sie waren kaum auszumachen, da es so dunkel war. 

Mysteriöse Stimme: “Ich bin der Beginn jener Rebellion, sich gegen alles was währt zu streben! Jener Observator der Äonen, der allgegenwärtig dazu bestimmt ist, für immer einen Weg zu finden über alles Sein zu wachen und achtzugeben!! Jener, der sowohl dein Anfang als auch dein Ende sein wird!!!” 

Total überwältigt von der geschwollenen Vorstellung fiel es mir schwer, ernst zu bleiben. 

 

“Aha, und besitzt unser kleiner Rebell vielleicht auch einen Namen, mit dem die Leute ihn ansprechen können?” 

Mysteriöse Stimme: “Hihihi... Ich ahnte schon, dass so was kommt. Entschuldige, die hiesige Verwendung von Namen erschien mir seit alters her immer etwas obskur. Doch keine Sorge... In den vielen Jahren, die ich nunmehr hier bereits umherwandle, hat mich mein verführerischer Ruf, so manchen Namen kennen lassen, die ich mein Eigen nennen würde. Doch einer, zeigte sich freilich allen anderen unentwegt überlegen, da er sich über alle Zeit und Raum hinweg bewährte... 

Von Verwunderung übernommen hoben sich meine Brauen zur Stirn. 

Mysteriöse Stimme: “Und dieser Name... hihihi... lautet...  

Die Figur hob ihre Arme vor das Gesicht und wedelte mit ihnen wild herum. 

Mysteriöse Stimme: “...der Auserwählte.” 

 

“Der Auserwas...?” 

Die Figur streckte prompt ihren rechten Arm zu mir aus. 

Auserwählter: “Der Auserwählte! Es bedeutet der, der auserwählt ist... Mach es ein weiteres Mal falsch und du wirst es ein Leben lang bereuen!” 

“Ja-ja, schon gut...”, gab ich eingeschüchtert zurück. 

Die Figur senkte ihren Arm wieder. 

Auserwählter: “Doch du bist es, der was von mir möchte, nicht ich... Aber auch das solltest du bereits wissen...” 

(“Wow, wie verliebt kann man eigentlich in sich sein?! Da wird ja selbst Narziss gelb vor Neid... Von wegen Auserwählter... Viel eher durchgeknallter Affektierter!”), war mein erster Eindruck von ihm. 

 

“Darf ich denn dann fragen, was dich so auserwählt macht?” 

Auserwählter: “Hihihi... Du weißt aber, wie man das anständig angeht...” 

Die Figur reckte sich langsam zu meinem linken Ohr und flüsterte. 

Auserwählter: “Meine Hintergrundgeschichte erzählen wir ein andermal...” 

Im gleichen Moment spürte ich ein näherndes, fast schon brennendes Hauchen von rechts kommen. 

Auserwählter: “Jetzt soll es erst mal um dich gehen, ok?”, schallte es nun aus dieser Richtung. 

Ich drehte mich erschrocken zur Wand neben mir. Niemand war zusehen. Die Figur befand sich wieder in ihrer ursprünglichen Position, als hätte sie sich nie nur auch eine Winzigkeit von der Stelle gerührt. Brühwarm bekam ich eine Gänsehaut. 

 

Als ich das Wesen erneut betrachtete, wirkte es überhaupt nicht mehr menschlich auf mich. Trotzdem kam es mir auf einmal unheimlich vertraut vor, was mich innerlich aufschreckte. Woher diese Vertrautheit aber stammte, hatte ich nicht den geringsten Schimmer, sodass der alleinige Anblick der Gestalt mich bis in die Tiefsten meiner Knochen gruselte. 

Auserwählter: “Oh, guck mich nicht so grimmig an... Verschlägt dir plötzlich etwas die Sprache? Hihihi... Bestimmt magst du es einfach nicht, Sachen ins Ohr geflüstert zu bekommen...” 

Das leuchtende Fenster schlug ohne sichtbaren Einfluss von alleine auf. Der kalte, einsame Luftzug füllte erneut das Zimmer. Nur diesmal schauerte er auch eisig über meine Haut, sodass meine aufsträubenden Haare im Wind zitterten. 

 

Auserwählter: “Oder andere Theorie... Kann es vielleicht sogar sein, dass du gerade versuchst, mich zu analysieren?” 

Meine ernstblickenden Augen weiteten sich durch die Einkehr von Unglauben. 

(“Woher hat es davon erfahren?!! Niemand außer mir weiß davon, oder?!! Es gibt keine Möglichkeit, das zu wissen... Zumindest keine, die ich kenne. Was zum Teufel ist es und warum habe ich das verfluchte Gefühl, dass da ein Teil von jemanden ist, den ich kenne?!!”) 

 

Auserwählter: “Du fragst dich bestimmt, woher ich davon erfahren habe...” 

Die Figur begann sich auf und ab entlang meiner Bettkante zu streifen. 

Auserwählter: “Es gibt so manches, was du nicht verstehst, mein Junge... Doch du bist ein schlaues Köpfchen. Das hast du mir schon genügend unter Beweis gestellt.” 

Am Bettende drehte es um und schaute mich direkt mit seinem hämischen Grinsen ins Gesicht an. 

Auserwählter: “Daher erlaube ich dir eine einzige Frage zu stellen und ich verspreche, dass ich sie dir 100% ehrlich beantworten werde!” 

 

(“Nur eine?! Das ist nicht im Ansatz genug an Infos, um irgendwas daraus zu lesen...”)  

Es war schwierig einzuschätzen, was das Wesen von mir wollte oder dachte, da ich mit unnatürlich wirkender Gestik und keinerlei verändernder Mimik zu arbeiten hatte. Einzig und allein konnte ich mich nur auf dessen Stimme beruhen. 

(“Kann es sein...? Hmm... Gut möglich, dass es mich testen will...”) 

 

“Eine Frage nur? Ne, nicht nötig! Ich habe eh vor, das Ganze hier zu überspringen...” 

Auserwählter: “Huh?” 

“Was will ich bitte von einem hochnäsigen, arroganten Firlefanz, der sich nicht mal traut, sein Gesicht zu zeigen, schon wissen?!” 

Auserwählter: “...” 

Für gute zehn Sekunden reagierte es nicht. Ich hoffte, dass ich es mit meiner patzigen Antwort etwas aus der schelmischen Fassung bringen konnte. 

 

Auserwählter: “...Ah, wie mir aufzufallen scheint, irritiert dich meine jetzige Form der Erscheinung. Ist es eventuell möglich, dass ich durch mein enigmatisches Auftreten dein Interesse geweckt habe?” 

Ich ignorierte gekonnt sein erzwungen verdrehtes Erwidern, da es mir nun offensichtlich erschien, dass trotz dessen, was es vorhin erwähnt hatte, es doch etwas gab, was es von mir wollte. 

Auserwählter: “...Na, wenn du dich nicht drauf einlässt, dann soll es ebenso sein. Ich werde dich zu nichts zwingen. Doch Junge... Du solltest deinen Platz in dem allem hier wissen!” 

“Meinen Platz in was denn, bitte?” 

Ich hob meinen Zeigefinger und grinste das Wesen ernst an. 

 

“Vielleicht bist du ja bereit, einen Deal mit mir einzugehen?” 

Auserwählter: “Einen Deal?” 

“Ja, wie wäre es, wenn ich dir nicht eine, sondern gleich drei Fragen stellen darf, mit dem fidelen Twist, dass es nur Ja/Nein-Fragen sind.” 

Es überlegte erneut einen kurzen Moment nach. 

Auserwählter: “Hihihi... Hältst du mich eigentlich für blöd?! Erst sagst du, du willst die Frage überspringen und jetzt willst du drei?!” 

Das Wesen kicherte ununterbrochen schelmisch weiter, sodass es mir langsam auf den Zeiger ging. 

 

Auserwählter: “Hmm, doch ich kann nicht leugnen, dass ich von dieser Entwicklung ein wenig fasziniert bin... Was springt für mich dabei heraus?” 

“Du willst ja sehen, was ich mit der Info anfangen kann. Ansonsten hättest du mir das Angebot erst gar nicht gemacht, oder? Lass dich darauf ein und ich sag dir...” 

Ich atmete für den dramatischen Effekt noch mal tief ein. 

“...Wer du wirklich bist!” 

 

Die Gestalt hielt ein letztes Mal inne. 

Auserwählter: “Junge, du scheinst echt Nerven aus Stahl zu besitzen...” 

Es drehte sich um. Nicht mal von hinten war die Figur auszumachen. 

Auserwählter: “Doch ich muss zugeben... Auch du hast mich neugierig gemacht. Niemals wirst du die Antwort nur durch Ja/Nein Fragen herausfinden... Dafür müsstest du schon die Nadel im Heuhaufen finden... Und dabei wissen wir beide, dass du im Dunkeln tappst...“ 

Der Raum schwärzte noch mehr.  

Auserwählter: “Also... Stell mir deine erste Frage...” 

 

Eigentlich war mir sein Kostümspiel ziemlich egal. Ich wollte nur an so viele Informationen wie möglich. Irgendwas passierte in der realen Welt, dass mich diesen komischen Traum hat faszinieren lassen und ich musste unbedingt herausfinden, was das war. 

“Kenne ich deine jetzige Identität?” 

Auserwählter: “Ja.”, antwortete es knapp mit nur leicht verärgerter Stimme. 

Die Frage diente nur als Köder, da es mir offensichtlich war, wenn es mich testen wollen würde, dass es die Gestalt von jemanden angenommen hatte, den ich wiedererkenne. Ansonsten würde es keinen Wert darauflegen, inkognito zu bleiben. 

 

“Bist du verantwortlich für diese mysteriöse Kraft, die sich in mir ausbreitet?” 

Auserwählter: “Unteranderem...”, diesmal mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. 

Das war wichtig für mich zu wissen. Dieser Traum stand unmittelbar in Verbindung mit der Kraft und mit ihm. Also war dies meine einzige Chance, dem zu entkommen. 

(“Sollte diese Kraft... also auch nach dem ich mein Bewusstsein verlor, weiterhin Krawall in der Außenwelt verursacht haben, will ich mir gar nicht vorstellen, was gerade alles passieren könnte...”), dachte ich. 

 

Auserwählter: “Und jetzt die finale Frage...” 

“Richtig... Wann war es, als du so ein Weichei geworden bist?” 

Es dauerte kurz bevor eine Reaktion folgte. Daraufhin blickte es mich verwundert an. 

Auserwählter: “...Ähm, wie ich sehe... Moment Mal! Das war nicht mal eine Ja/Nein-Frage!” 

Ein furchteinflößendes Grinsen bildete sich in dessen Gesicht. 

Auserwählter: “Oh, du frecher Dreikäsehoch... Kann es sein, dass du von vornerein nicht darauf hinaus warst, meine Identität herauszufinden?! Du hast mich in deinen Deal getrickst, indem du mit meinen Gefühlen gespielt hast und ich bin auch noch blind in deine Falle gelaufen!” 

“Warum sollte ich was herausfinden, was ich eh schon weiß?! Noch dazu, was interessiert es mich, als wer sich der große Ausgezählte zum Fasching verkleidet?!” 

 

Auserwählter: “Grr... Es heißt der Auserwählte!” 

“Pah! Wie auch immer... Jetzt verschwinde endlich von hier!” 

Auserwählter: “Respekt... Du hast es geschafft, mich bis aufs Äußerste zu erzürnen. Doch das habe ich mehr oder weniger erwartet...” 

“Ach, ist dem so?!”, schmunzelte ich. 

Auserwählter: “Großes erwartet uns beide, so viel ist garantiert... Leider habe ich jetzt weder die Kraft noch die Zeit, mich über Mückenstiche aufzuregen! Schlussendlich hast du mir gerade bestätigt, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich werde dich kein zweites Mal unterschätzen, so viel wird auch sicher sein! Ganz egal welche Irrwege du verfolgst...” 

“Ehh, ich weiß ja nicht... Du scheinst mir in deinem grandiosen Plan für die Zukunft genauso großen Platz für Irrtum gelassen zu haben.” 

Auserwählter: “Ziemlich viel Mumm hast du dich in deiner Lage, mit tränengefüllten Augen und zitternden Knie, gegen MICH... den Auserwählten zu stellen! Doch lass dir eins gesagt haben, du wirst den Tag bereuen, an dem du dich über meinen Namen lustig gemacht hast!” 

Danach löste er sich auf. 

“Ich bereue den Tag jetzt schon...”, stöhnte ich erschöpft. 

 

Bei jedem dieser utopischen Besuche wurde ich mit einer meiner tiefsten Ängste konfrontiert. Auch wenn es irgendwie den Anschein machte, dass ich diese Illusion gut überstand, so spürte ich, wie mein Aufenthalt hier mich immer weiter innerlich zerriss. 

Das erste Aufeinandertreffen war mit meiner Großmutter, deren frühes Abtreten mich noch viele vergangene Jahre später unterbewusst heimsuchte. Sie hatte mich an meine Angst vor dem Verlust erinnert. 

Das zu verlieren, was man einst zu lieben gelernt hatte, ist grausam. Das habe ich bisher in meinen kurzen Leben ausreichend genug kennengelernt. Das Wiedersehen mit ihr brachte unterdrückte Gefühle in mir zum Vorschein, die wie ein aktiver Vulkan nach langer Zeit endlich wieder ausbrechen zu schienen. 

 

Auch das Gespräch mit dem Auserwählten ließ mich in eine Rolle fallen, die schon immer zu mir gehört hatte, wie jede andere meiner Personas. Es ist meine Angst vor dem Ungewissen. 

Nicht zu wissen, wenn auch manchmal ein Segen, kann unter den falschen Umständen sehr schmerzhaft enden. Sei es im Jetzt oder im Nachhinein. Diese Furcht von der Unwissenheit lässt in mir irgendwie eine Einsamkeit ausbreiten, die dann darin resultiert, dass ich mich meist vom Konflikt distanziere und sich schließlich zur Arroganz meinerseits entwickelt, die manchmal wirklich ihr Gleiches sucht oder im allerschlimmsten Fall sogar in Trotz endet. Ich hasse diese Seite von mir nur allzu sehr. 

 

Doch viel schlimmer, als nicht zu wissen, ist das Irren. Das Streben nach dem Falschen. Die Angst zu haben, eines Tages zu realisieren, das für was man mit ganzem Willen kämpfte, nur eine billige Fassade gewesen war. Es ist die ständige Frage in meinem Innersten. Ist das für was ich stehe, richtig oder nicht? 

Doch wer entscheidet das schon? Wer überhaupt entscheidet, was recht und unrecht ist? Die Gesellschaft? Das Gesetz? Gott? 

Nein, jeder entscheidet das für sich selbst. Und davor habe ich Angst. Es ist meine Angst vor der Veränderung. Doch lebe ich mit dieser schon mein ganzes Leben, als würde ich mir ständig zusprechen, dass es egal... nein, dass es normal ist. Irren ist menschlich. Und daher fürchte ich mich am meisten davor. 

 

Ich realisierte, dass ich von hier an aus nur noch verlieren konnte. Und so wünschte ich nicht mehr, als dass dieser Traum einfach ein Ende finden würde. 

“Was auch immer jetzt noch kommen mag... Wer auch immer mich diesen Albtraum haben lässt... Bitte... Ich habe keine Energie mehr... Keinen Willen mehr voranzuschreiten... Bitte... Wenn das so weiter geht, weiß ich nicht..., ob ich... Ob ich, ich selbst bleiben kann... Bitte... Ich will das nicht mehr... Kann ich nicht wieder zurück? Zurück zu dem, was ich einst als mich bezeichnet habe... Bitte...”, sprach ich noch immer tränenvoll in die dunkle Leere hinein. 

 

Erst bekam ich keine Antwort. Nichts schien sich auf mein Flehen verändern zu wollen. 

(“Wieso sollte auch jemand mich hier verstehen können...?”), hörte ich mich leise in Gedanken zu mir sprechen. 

Doch in dem Moment, wo ich eigentlich nichts mehr erwartete, vernahm ich schließlich den letzten der drei wandelnden Besucher, dessen Stimme von allen, die ich wieder zuerkennen versuchte, mir so gut bekannt war, dass sie mich aufs Erste zutiefst erschreckte. 

 

Tetra: “Iiiiiiiii-diot!! Wieso willst du schon aufgeben, wenn du den besten Teil noch nicht gesehen hast?!! Mich!!!” 

“Tetra!?" 

Sie erschien vor mir und posierte in der Tetra typischsten Pose, die man sich nur vorstellen konnte. Mit der Faust oben und einem wütenden Blick pirschte sie zu mir ans Bett heran. 

Ich war verwirrt. Was machte sie hier? Wie konnte es möglich sein, dass sie für einer meiner größten Ängste steht? 

Tetra: “Das ist ja mal wieder typisch! Ansonsten willst du ja auch nie aufstehen, Schlafmütze... Doch wenn ich in deinen Träumen auftauche, dann ist es wohl gleich ein Albtraum... Das merk ich mir, blöder Bruder! Bleh!” 

Sie streckte mir mit vollem Elan ihre Zunge entgegen. Es gab keinen Raum für Skepsis. Es war Tetra durch und durch. 

 

Doch dann fiel mir etwas auf. Zumindest hatte ich nun eine Vermutung, was es mit dieser Irrfahrt in meinem Unterbewusstsein auf sich hatte. Ich war mir mittlerweile ziemlich sicher, dass es diese Kraft sein musste, die mich auf die Probe stellen wollte. 

Seit ihrem Erscheinen hatte sie mir ständig die Ausmaße meiner wahren Gefühle gezeigt, die ich normalerweise in meinem Inneren verschließe, um sie vor der Außenwelt zu verstecken. 

Der Sinn des Tests musste es sein, mich mit meinem Selbst zu konfrontieren, um mir die Grenzen meiner mentalen Stabilität zu zeigen und die wundesten Stellen meiner Psyche zu offenbaren. 

Jedoch welchen Zweck das hatte, war mir nicht bewusst. Dennoch mit allem, was bisher geschehen war, reimte ich mir zusammen, dass diese mysteriöse Kraft eventuell herausfinden möchte, ob ich stark genug bin, sie zu bändigen oder ob sie früher oder später meinen Verstand wegbrutzeln wird. 

 

Tetra: “Ich ha--” 

Ich legte meinen Zeigefinger auf ihre Lippen, so wie sie ihren sonst morgens auf meine Nase abgesetzt hätte. 

“Psst... Sag einfach nichts. Ok?” 

Sie nickte.  

Als ich sie in diesem Atemzug so anschaute, sah sie so voller Unschuld aus, dass ich fast vergessen hätte, was gerade um mich herum geschah. Ich wollte, dass dieser Moment für die Ewigkeit hält. Doch wusste ich auch, dass dies nicht bleiben konnte. 

 

Ich musste sichergehen, was geschehen ist in der Zeit, in der meine Erinnerungen Risse aufweisen. Konnte ich sie vor dem Attentäter, der aufgetaucht ist, dem Unglück, das mir gezeigt wurde und dem Schicksal, das zu verändern schien, bewahren? Das war das Einzige, was mich wirklich interessierte. 

“Ich möchte nur eines von dir wissen...” 

Ich schaute ihr ernst in die Augen. Jede einzelne Reaktion könnte entscheidend sein, um die Wahrheit zu erfahren. 

“Wo bist du?” 

 

Auf einmal nahm ihr Gesicht eine ganz betrübte Form an. Ich erkannte diese Tetra erst gar nicht wieder. Bis sie so traurig schaute, dass ich das Gefühl bekam, das seit heute Morgen keine weitere Sekunde vergangen ist. 

Eine einzelne Träne rann über ihre weiche Wange, während sie sich zu sehr über die Bettkante lehnte und langsam auf mich fiel. Ich spürte, wie sie am ganzen Leibe zitterte, als sie mir liebevoll ins linke Ohr flüsterte. 

Tetra: “Alex, es tut mir so leid... Es tut mir so, so unendlich leid... Entschuldige...” 

 

Sie umschloss meinen Körper und umarmte mich so fest sie konnte. Verzweifelt versuchte ich etwas zu unternehmen. 

“Hey, du musst dich nicht bei mir entschuldigen... Sag schon, was ist denn los?!” 

Obwohl ich sicher war, dass etwas nicht stimmte, verstand alles in mir, dass ich nichts an der Situation zu ändern habe. Sie lächelte mich an, während sie sich langsam in meinen Armen auflöste, als hätte ich sie für immer verloren. 

 

Ich fühlte, wie sich Ärger begann, in mir auszubreiten. Eine Wut, so fürchterlich, dass ich sie nicht zurückhalten konnte und nun versuchte, aus mir heraus zu brechen. 

Ich wusste, dass das Ganze nur ein Trick sein sollte. Ich wusste, dass das Ganze von vornerein nur darauf hinauslaufen sollte. Ich wusste, dass das Ganze mich zerstören sollte. 

Trotzdem waren die Gefühle, die ich gerade verspürte, real. Realer als die Realität, in der ich lebte. Und so bekam ich für einen Moment das Gefühl, als hätte sich die gesamte Welt mir gerade umgedreht, ihren Rücken gezeigt und gesagt, dass ich für immer verschwinden sollte. 

 

“Tet-ra... Tetra! TETRA! TEEEETRAAAAAAAAAAAA!!!!” 

Immer lauter schrie ich ihren Namen. Die Angst, sie verloren zu haben. Die Angst, nicht zu wissen, was mit ihr geschehen ist. Die Angst, mich geirrt zu haben, die Hoffnung zu besitzen, dem Schicksal entfliehen zu können.  

Auch wenn dies Ganze ein Traum sein sollte, so war die Angst, die ich verspürte, echt und meine. Noch nie hatte ich mich so sehr verraten gefühlt, wie in diesem Moment. Verraten von mir selber. 

 

Dann tauchte sie zu meiner vollsten Überraschung ein letztes Mal sitzend auf der leuchtenden Fensterbank vor dem offenen Fenster auf, wo hinter ihr der dunkle, schaurige Wind ihre haselnussbraunen Haare wegblies. Natürlich hatte sie ihr tränenüberzogenes, himmlisches Lächeln von gerade nicht verloren. 

Tetra: “Alex, ich hoffe, du kannst deiner dummen Schwester noch ein letztes Mal verzeihen! Ich... Ich... weiß es ni---” 

Sie lehnte sich ein wieder mal zu sehr in eine Richtung und fiel rückwärts aus dem Fenster. Instinktiv streckte mein Arm ihrem Fall entgegen. 

 

Ich wollte das nicht akzeptieren. Ich sollte das nicht akzeptieren. Ich konnte das nicht akzeptieren. Und auch wenn das die Zukunft sein sollte, dann werde ich halt gegen sie revoltieren. Mit allem, was mir zur Verfügung steht. 

Ich stand aus meinem Bett auf und lief in Richtung des Fensters. Ich bemerkte, wie ich jegliche Ruhe, die ich noch unter der Decke besaß, verlor. Jeglicher Halt, der mir einst geschenkt wurde, verschwand. Trotz alledem sprang ich ohne ein Noema ans Zögern zu verschwenden, meiner Schwester hinterher. 

Ich bin mein ganzes Leben schon schwach gewesen. Sei es physisch oder psychisch, in jeder Hinsicht war dies nichts neues für mich. Um ehrlich zu sein, hatte ich keine großen Erwartungen in mich, diesen Test zu bestehen. Es war mir auch regelrecht egal. 

Ich wollte mich nur vergewissern, dass es Tetra gut geht. Nein, ich wollte mich vergewissern, dass ich keinen Fehler gemacht hatte. Das hatte auch die Kraft in mir bemerkt und war bereit, drastischere Maßnahmen anzugehen. 

 

-Mittlerweile in Seiner Welt- 

Wohlklingende Stimme: “Welch interessanter kleiner Haufen du mir doch bist. Obwohl dein Körper in solch Aufruhr wahrt, scheint es dich gar nicht zu stören. Friedlich steckst du im Dornröschenschlaf, als wäre nie etwas geschehen. Hmm... Oder als seiest du gar nicht mehr bei uns...”  

“TEEEEEEEEETRAAAAAAA...!” 

Wohlklingende Stimme: “Huh... schon wieder falsch...” 

 

Dieser Traum, auch wenn er nur mit kurz zu erscheinenden Gesprächen gefüllt war, so fühlte er sich für mich mehrere Stunden lang an, obgleich in Wirklichkeit nicht länger als wenige Sekunden vergangen sein sollten. 

“TEEEEEEEEETRAAAAAAA...!” 

Wohlklingende Stimme: “Keine Sorge... Ich bin hier...” 

Meine Theorie, dass dieser Zustand, in dem ich mich befand, Einfluss auf die Außenwelt hatte, sollte sich im Nachhinein bestätigen, da später von vehementen Schreien berichtet wurde, bevor jeder vom Ort des Geschehens flüchtete. 

 

Auf einmal fing der Rettungswagen an kräftig ins Wanken zu geraten. Eine vibrierende Erschütterung, die aus dem Nichts zu kommen schien, brachte alles zum Schwingen. Und mit jeder weiteren Sekunde zeigte sich das Rütteln immer nur noch schlimmer zu werden. 

Wohlklingende Stimme: “Hmm... Wirklich faszinierend... Auf nichts scheinst du Reaktion zeigen zu wollen... Als würde etwas bewusst dafür sorgen, dass alles abgestoßen wird...” 

Die ganze Ausrüstung im Inneren wackelte stärker und stärker, sodass Teile nun auf den Boden krachten und beim Aufprall schon zersprangen. Die Liege, an die ich gebunden war, schaukelte heftig von einer Seite zur nächsten.  

“TEEEEEEEEETRAAAAAAA...!” 

 

Auch nach einer halben Minute schien das Beben kein Ende zu nehmen. Der Fahrer konnte das Fahrzeug gerade so anhalten, ohne in eine bevorstehende Ampel zu rasen. 

Wohlklingende Stimme: “Was es wohl sein mag, dass solchen Tumult in dir auslöst?” 

“TEEEEEEEEETRAAAAAAA...!” 

 

Mit dem vierten Schrei begann ein blaues, grelles Licht um mich sich zu bilden, das anfing immer stärker zu leuchten. Es sah so aus, als würde sich ein Schwarm blauschimmernder Glühwürmchen von mir magisch angezogen fühlen und sich langsam auf mich setzen. 

Doch es waren keine Glühwürmchen, die aus meinem Körper kamen. Es war etwas Mystisches... Etwas so elementar Wichtiges, dass es gar nicht wegzudenken war. 

Wohlklingende Stimme: “Eos?! Was geschieht hier?!” 

 

(“Die Stimme nähert sich. Ich kann es spüren. Sie will es anfassen. Warum will sie es anfassen?! Nein, sie darf es nicht berühren!! Hörst du?!! Du darfst das nicht zulassen!! Das ist deins und deins allein!!“) 

Wohlklingende Stimme: “Egal was es ist, ich muss es wissen!!” 

Das Licht lud sich auf, bis ich ganz davon umhüllt war. Plötzlich schoss es wie ein gewaltiger Laserstrahl in den Himmel. Er war gigantisch und reichte bis in die Höhen der Stratosphäre. Auch in die Breite schien er nun immer mehr zu wachsen, sodass auch immer mehr von ihm aufgesogen wurde. 

 

Die Seele des Jungen entsprang aus seinem Körper suchend nach der Person, nach der sie sich so sehr sehnte. Sie stieg den Lichtstrahl empor, aus den Tiefen seiner selbst schreiend nach der Schwester des Jungen. Langsam aber sicher erfasste der Lichtstrahl nicht nur das Fahrzeug, in dem die Ursprünge der Ekstase sich befanden, sondern auch die ganze Kreuzung drumherum. Es schien, als würde die Aura des Jungen alles verschlingen wollen. 

Wohlklingende Stimme: “Mein Le-ben... Aber wa... warum?” 

Die Stimme verschwand mit dem Fall einer Träne. 

 

Der Laser, trotz seines hellen Auftretens verhielt sich wie ein plötzlich aufgetauchter Wirbelwind, der sich in seiner Heftigkeit mit den allergrößten Großtromben der Erde messen wollte. Sprich alles, was er begann zu verschlingen, sei es Autos, Ampeln oder Bäume, wurde ohne großen Widerstand vom Boden gerissen und flog rasend durch die Luft. Nichts hatte auch nur eine Chance, ihm zu entkommen. 

Natürlich wurde die Erscheinung schon von den vielen Menschen, die in der Umgebung lebten, arbeiteten oder auch nur zufällig zugegen waren, bemerkt. Panisch versuchte man sich und den Nächsten in Sicherheit zu bringen. Von Kindern zu Pensionierten, alle bemühten sich dem Schrecken zu entfliehen, das sich langsam vor ihnen anbahnte und in seiner Expansion unaufhaltsam wirkte. 

Selbst die Helfer in Blau, die sich wegen des Vorfalls in der Schule immer noch in Alarmbereitschaft befanden, waren bereits angekommen und sperrten das gesamte Stadtviertel, in dem das unendlich wirkende Ausmaß zerstörerischer Kraft ausgebrochen war, in höchster Eile ab. 

 

Immer mehr der Umgebung ging in kürzester Zeit zu Bruch. Die Fenster der Häuser gaben nach und zersprangen in Scherben. Hydranten implodierten und sprühten meterhohe Wasserfontänen. Sogar betonfester Asphalt begann an Stellen rissig zu werden. 

Niemand der Anwesenden hatte eine wirkliche Ahnung, wie man das Phänomen hätte stoppen können. Mein anhaltendes Kreischen, das für alle zu hören war, hatte es bestimmt auch nicht einfach gemacht, über einen Weg nachzudenken. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was alles hätte geschehen können, wäre er schließlich nicht gekommen. 

Denn am Ende allen Geschehens war bereits eine Figur auszumachen, dessen Schatten sich dem Biest schon entgegenstellte. 

 

Alex: “Krass! Was ist das für ein heftiger Scheiß?! Das sieht ja straight wie aus ‘nem Videospiel aus!!” 

Es war Alex. Nach dem Zwischenfall in der Schule hatte er irgendwie von der sämtlichen Situation Wind bekommen und ist unerschüttert dem Krankenwagen gefolgt, in dem ich weggebracht wurde. 

Alex: “Alex, in was bist du hier nur hineingeraten...?!” 

Er schlich sich an den Absperrungen vorbei und rannte so schnell er konnte zum Auge des Sturms. Dies war leichter als gedacht, da die ganzen Menschen, die es nicht schafften aus ihren Häusern zu kommen, großes Aufsehen erregten und jegliche Aufmerksamkeit von ihm lenkten. 

Einige Meter vor dem Lichtstrahl blieb er jedoch stehen. Staub, Blätter und Zeitungspapierreste fetzten nur so um sein Gesicht. Näher zu kommen wäre ungeschützt sicherlich Selbstmord gewesen. 

 

Mühselig versuchte er den Kopf anzuheben, um nach oben zu blicken, doch der herrschende Druck, der sich wie ein schweres Laster auf ihn setzte, machte es ihm nicht leicht. Trotzdem konnte er unschwer erkennen, wie etwas langsam den Strahl aufstieg. 

Alex: “Ist das Alex da oben?! Arrgh!! Junge, muss das so laut sein?!!” 

Aufgrund des andauernden Lärmpegels zwang es ihn beide Ohren mit den Händen zuzuhalten.  

Alex: “Hrmpf! Komm, jetzt reis dich zusammen, Alter!” 

Sein fallender Blick landete auf ein nächstgelegenes Hochhaus, das noch nicht ganz vom Laser eingeholt war. 

 

Alex: “Tja, Zeit zu zocken! Alles oder Nichts!!” 

Er rannte ins Gebäude und trat die Tür ein. Im Haus wackelte alles vom Beben. Die Wände fingen an zu bröckeln und verloren ihre Tapeten. Die Treppen zerbarsten eine nach der anderen unter seinen schweren Schritten. Das Geländer zerbrach beim Aufstieg, in dessen winzigste Einzelteile. 

Alex: “Verdammt! Wenn ich das bis nach oben schaffen will, muss ich echt langsam anfangen zu hasseln!” 

Eine kurze Sicht nach oben zeigte ihm wie weit es noch war. Erst die Hälfte lag bereits hinter ihm. 

Alex: “Ich kann jetzt nicht aufhören! Ich muss näher dran!!” 

 

Normalerweise, das will ich dir sagen, kann ihn so gar nichts aus der Ruhe bringen. Selbst wenn man mal spät für die Bahn sein sollte, bleibt er stets sich selber treu und zeigt sich tiefenentspannt. 

Das letzte Mal also, als ich ihn mit so einem Herzklopfen erlebt hatte, muss schon so lange her gewesen sein, dass ich mir nicht mal mehr sicher sein kann, dass dieser Moment je existiert hatte. Doch an jenem Tag war vieles, dass seit etlichen Jahren gleichgeblieben ist, anders. 

Alex: “Puh!! Das war mehr als nur knapp!! Scheint, als müsste ich von hieraus echt aufpassen...”, sprach er versichernd zu sich selber, als er gerade so noch eine der fallenden Stufen erwischte. 

Alex: “Nicht, dass ich das nicht schon getan hätte...” 

Seine Panik schüchterte ihn aber nicht ein. Im Gegenteil, sie ermutigte ihn eher, die Stockwerke schneller hinaufzueilen. Auch wenn es wirkte, als würde das Haus jeden Moment einstürzen.  

 

Alex: “Hech... Hehehe... Heute bin ich... Hech... scheinbar in Topform. Hech... Nichts... Hech... kann mich... Hech... stoppen...” 

Nach dem letzten Atemschnaufen stieg er die finale Stiege hinauf. Glücklicherweise war der Zugang zum Flachdach nicht zugesperrt, als er mit letzter Kraft die Luke aufdrückte. 

Alex: “Alex, was machst du, Alter?! Ich wusste, dass du merkwürdig sein kannst... Doch das hier... Man das geht eindeutig zu weit!!” 

Am höchsten Punkt des Gebäudes angekommen, vernahm er meine schreiende Seele im Inneren des Lasers, wie sie nach Tetra heulte und krächzte. Der Wind fegte ihm nur so um den Kopf. Kleine Lichtfunken pulsierten wie Blitze im Schlund des Unwetters. Trotz des drohenden Zerfalls verblieb er eine kurze Weile ruhig auf dem Dache stehen. 

 

Alex: “...Sag mir, was glaubst du, was das hier wird?! Du kannst nicht einen riesigen Laser mitten in der Stadt verantworten und nicht mit Konsequenzen rechnen! Nicht alles dreht sich immer nur um dich, hörst du?!” 

Er nahm ein kleines Stückchen vom abbröckelnden Dach und warf es in den Laser. Der Stein zermalmte beim Kontakt zu feinstem Staub. 

Alex: “Jeder muss seinen eigenen Weg gehen!! Gerade du... Du müsstest doch von allen hier am besten wissen, dass Einer in dieser Welt Alle ist...” 

 

Zu diesem Zeitpunkt erinnere ich mich, wieder eine Art Bewusstsein entwickelt zu haben. Ich weiß nicht genau, was es ausgelöst hatte, doch ich bekam ein Gefühl, wieder in Kontrolle zu sein. 

Alex: “Und, falls du es wirklich vergessen haben solltest... Dann ist es meine Aufgabe, als dein Freund, dich wieder daran zu erinnern...” 

Entschlossen schaute auch er nun der zerstörerischen Wut entgegen und ballte seine vom Sturm aufgeschürfte linke Hand zusammen. 

Alex: “...was diese Worte einst für dich bedeuten haben...” 

 

Er rannte in Richtung des Lasers. Der schneidende Wind zerfetzte seine Kleidung und Gesicht. Blut tropfte aus seinen Schnittwunden. Ich wusste nicht, was in ihn gefahren ist. Warum setzte er sich so einer Gefahr aus? 

Alex: “Ich wusste schon heute Morgen, dass etwas nicht stimmt! Doch egal was der Grund für diesen Scheiß hier ist! Was bist du denn für ein Baby, so in der Öffentlichkeit zu heulen! ...” 

 

“DU IDIOT! 
SOWAS MACHT MAN EINFACH NICHT!” 

 

Er sprang. Vom Dach hinein in den Laser. Hinein in den fließenden Strom der Kraft. Ich hatte keine Ahnung, warum er das getan hatte. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht?! 

Natürlich würde er fallen. Was hätte sonst passieren sollen? Warum macht er auch so etwas Verrücktes?! 

Ich konnte ihn nicht stürzen lassen! Ich konnte es einfach nicht!! Ich musste etwas tun! Ich musste ihn fangen!! Alles andere war jetzt egal!!! 

 

Die Seele des Jungen besann sich, nachdem sie realisierte, welch Schaden sie angerichtet hatte. Sie verschwand wieder in den Körper des Jungen, der nun die neue Kraft zum ersten Mal willentlich verwendete, um seinen Freund zu retten. 

Der Sturz hätte ihn umgebracht. Das wusste ich ganz genau. Selbst wenn ihn jemand aufgefangen hätte. Aus dieser Höhe hätte er niemals überlebt. Dies ist mir in diesem Moment genau bewusst geworden. 

Doch diese Kraft hatte es möglich gemacht. Sie ließ den hohen Fall vom Gebäude wie ein kleiner Sturz vom Fahrrad wirken. Und so erlebte ich zum ersten Mal die positive Seite dieser Macht.  

 

“Du, alter Dummkopf! Wie wagst du es mich merkwürdig zu nennen, wenn du mindestens genauso durchgeknallt bist! Du hast nicht mal für einen Moment gezögert und nach hinten geschaut! Du hast nicht ein Zeichen von Angst gezeigt! Was, wenn kein Netz da gewesen wäre... Ich... Ich hätte dich verloren...“ 

Alex: “Hehe... Tut mir leid... hech... es macht keinen Sinn... hech... ich weiß… Aber hat es nicht was gebracht? Mhmm... Dann nimm es einfach hin...” 

Ich weinte erneut. Ich konnte ihm nicht böse sein, für was er getan hatte. Nicht nachdem er mich gerettet hat. In Wirklichkeit wusste ich, dass ich mich eigentlich bei ihm bedanken sollte. 

 

“...Aber, danke! Danke, dass du für mich da gewesen bist! Danke, dass du dein Versprechen gehalten hast! Danke, dass du mich in die Schranken weißt, wenn ich es übertreibe! Danke, dass du mein Freund bist!” 

Er lag bewusstlos in meinen Armen. Ich schaute um mich herum und sah die Verwüstung, die ich hinterlassen hatte. Dann schaute ich in den Himmel und bemerkte, wie die Wolken in der Umgebung dunkel wurden. Mit dem ersten Tropfen auf der Nase fiel ich zu Boden. 

“Mensch, es sieht so aus, als hätte eine Göttin ihren Zorn hier ausgelassen... Ha! I’m finished!

004.jpg
bottom of page