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Kapitel I – Tag D: Das Erwachen der Kraft 

21/09/15: 

Dies sind die Geschehnisse jenes Tages, die dazu führten, dass die Menschheit, soweit sie sich erinnern konnte, ihm den Namen D gab. 

Auch wenn ich es für lange Zeit nicht wahrhaben wollte, diese nächsten 24 Stunden sollten den restlichen Verlauf meines weiteren Lebens für immer bestimmen. Mit dem heutigen Untergang der Sonne sollte über mein und das Schicksal aller entschieden und den Kurs der Dinge für alle Zeit und Raum in eine neue Richtung gerückt sein. 

Meine Erinnerungen an das geschlagene Datum sind mittlerweile zu sehr verschwommen, als das ich auch nur ansatzweise von mir aus sicher behaupten könnte, dass ich damalig wirklich zugegen war. Am liebsten hätte ich alles für immer aus meinem Kopf radiert. 

 

6:00 ~ Zeit zum Aufstehen 

Während ich morgens langsam versuchte, mich aus den Federn zu quälen, fiel meinem Innersten sofort auf, dass etwas nicht stimmte. Ich konnte es mir nicht sofort erklären, aber etwas war offensichtlich anders als sonst. 

Noch schlaftrunken versuchte ich dem Gefühl auf den Grund zu gehen und griff routiniert nach meinen nahegelegenen Pantoffeln. 

Ja, es war gar keine Frage. Etwas fehlte. Etwas, was eigentlich gar nicht wegzudenken war, fehlte. 

 

(“Komisch... Wo bleibt denn das nervtötende Gehüpfe? ...”), fragte ich mich überrascht. 

Entgeistert wartete ich auf dem Bettlaken, das es endlich geschah. Aber es kam nicht. Und in dem Moment, wo ich es eigentlich gar nicht mehr erwartete, hoffte ich auf es am meisten. Aber es kam nicht. 

“Merkwürdig...”, nuschelte ich in meine Decke hinein, während ich versuchte, mir den Schlaf aus den Augen zu reiben. 

(“Das ist ja noch nie passiert, oder...?”) 

 

Gähnend blickte ich mich in meinem menschenleeren Zimmer um. Der einzig Anwesende war nur mein alter Teddybär, der in sich geknickt auf meiner Kleiderkommode saß. Fast wie von ihr angezogen, beäugte er die vielen Buchstaben, die meine Wandtapete schmückte.  

Doch er gab keinen Ton von sich. Und so war es für eine ganze Weile unangenehm still in meinem Zimmer. 

(“Hmm... Vielleicht ein neuer Trick? ...”), überlegte ich. 

Vorsichtig schaute ich in Richtung meiner Zimmertür. Scharf gestellt weichten meine Pupillen nicht mehr von ihrem Fleck. 

(“Egal, was du vorhast... Glaub mir, jeder noch so kleine Versuch wird nicht unbemerkt an mir vorbeigehen...)” 

 

“...” 

“... ...” 

“... ... ...” 

“Na, wenn sie noch nicht da ist, dann kann ich ja noch ein paar Sekunden pennen...”, beschloss ich lautmündig und zog grinsend die Decke wieder über mich. 

Jedoch mit jeder weiteren vergangenen Sekunde fühlte sich mein Innerstes immer verantwortlicher für die ungemütliche Situation, sodass ich schließlich nun von Schuldgefühlen überrumpelt, mir die Schlappen überzog und mich zu ihrem Zimmer begab. 

“Ntsss...”, schnalzte ich mit der Zunge, 

“...wie ich dich manchmal verfluchen könnte, schlechtes Gewissen...” 

 

Schlendernd scharrte ich über den Flurboden hinweg, als plötzlich ein kalter Schauer mich übernahm. Ganz von ihm wach erschreckt, stand ich nun vor Tetras Zimmertür mit der Hand schon unbewusst am Griff. 

Als ich versuchte, ihn runterzudrücken, bemerkte ich sogleich, wie überraschend schwer sich die Tür aus dem Rahmen bewegte. Trotzdem öffnete ich kräftezehrend den erschwerten Weg in den Raum. 

Prompt kam mir eine schaurig sonderbare Atmosphäre entgegen, die mir gleich kalt den gesamten Rücken runter lief. Auch entgegnend machte ich mich durch die Dicke des Stroms und kämpfte mich durch nicht wiederzuerkennendes, aber dennoch wohlbekanntes Terrain. 

Jeder weitere Schritt war schwerer als der zuvor. In Kürze bekam ich das Gefühl, als würde mir etwas die gesamte Luft zum Atmen rauben. Als würde es mich einengen wollen. 

 

Irgendwie durch den angsteinflößenden Sog gekommen, fand ich sie endlich. Meine Schwester in ihrem Bett zitternd, zusammengerollt und kreidebleich. Instinktiv kniete ich mich direkt zu ihr hin und packte sogleich meine Hand an ihre Stirn. Sie schien kein Fieber zu haben. 

“Tetra, geht es dir gut?”, faselte ich aus meiner trockenen Mundhöhle, obwohl die Antwort selbst auf den ersten Blick eigentlich recht offensichtlich war. 

Tetra: “A-lex, iiiich habe... ein ganz, ganz... miese-hes Gefühl...”, stammelte sie kleinlaut und gebrochen. 

Dass das Zittern kein normaler Schüttelfrost war, realisierte ich sofort. Ihre Muskeln waren total angespannt und sie atmete viel zu hektisch. Ich versuchte dem entgegenzuwirken, indem ich ihr sanft und liebevoll über den Rücken streichelte. 

 

“Beruhig dich erst mal...” 

In meinem Kopf wirbelten auf einmal so einige Gedanken herum, als ich sorgsam versuchte, durch ihre Haare zu wuseln. 

(“Was hat sie bitte denn so aufgebracht? Ihr Zustand ist zutiefst untypisch für sie... Hat sie etwa Angst?!”) 

Besonnen betrachtete ich ihr Antlitz. Verlaufene Spuren von feuchten Tränenwegen überdeckten ihre farbkarge Gesichtshaut. 

(“Was in aller Welt könnte...?”) 

 

In schrecklichen Vorstellungen, was gerade meiner Schwester solche Furcht einjagen könnte, schluckte ich etwas schwerfällig und vor allem nicht zu überhören den grausamen Dunst des räumlichen Odems in mich hinunter. 

“Schlecht geschlafen, was?”, versuchte ich mit erheiternder Miene die Stimmung aufzumuntern. 

Sie nickte. Ich überlegte, was ich jetzt am besten tun könnte. Ob wir beide nicht zur Schule gehen und zu Hause bleiben sollten? Unsere beiden Eltern waren arbeiten und würden erst am Nachmittag heimkommen. 

Tetra konnte es sich eigentlich nicht erlauben, zu Hause zu bleiben. Wenn sich wieder herausstellen sollte, dass es nichts Ernstes und sie wirklich nicht krank war, würde Mutter wieder mal furios werden und dann wollte ich beim besten Willen nicht in meinen Schuhen stecken. 

 

Ich checkte sicherheitshalber noch mal ihre Temperatur mit einem Thermometer. 

“36,4... alles normal...” 

Sie griff nach meinem Ärmel und schüttelte den Kopf. Tränen tropften ihre Wange herunter und auf ihren Teppichboden. Meine Worte schienen ihrer Stimmung nicht wirklich zu helfen. 

Ich bemerkte, wie überaus ungeübt ich darin bin, Menschen aufzuheitern, da es zurückblickend meist ich gewesen war, der oftmals Zeichen von Bedrücktheit gezeigt hatte. 

“Ach, du hast bestimmt nur schlecht geträumt... Und wenn trotzdem was sein sollte, vertrau mir, werde ich dich davor beschützen. Egal, was auch immer es sein mag...” 

 

Ich versuchte die Spuren ihrer Tränen aus ihrem Gesicht zu wischen. Sie fühlten sich so kalt und einsam an. Doch als diese langsam durch meine Berührung vor sich hin dunsten, spürte ich auf einmal, wie sich ihre Gesichtsfarbe wieder leicht wärmer färbte. Obwohl ich damit nicht mehr gerechnet hatte, hob sie ihren Kopf zu mir. 

Tetra: “Wirklich?!”, schluchzte sie lieblich mit einem winzigen Flimmern Hoffnung in den Augen, als sie im selben Atemzug durch ihre leicht errötete Nase schnaubte, wodurch diese Kombi selbst mein kaltes Herz zum Springen gebracht wurde. 

“Na klar, darauf kannst du wetten! Jetzt komm, zieh dich an... Oder willst du etwa zu spät kommen?” 

Ein letztes Schmunzeln konnte ich ihrem Wesen entlocken. 

 

Beim Frühstück konnte ich kaum einen Löffel Müsli runterbringen. Ich vermutete erst, dass die Milch schlecht war, doch bei genauer Betrachtung der Verpackung schien das zumindest laut dem Ablaufdatum nicht der Fall zu sein. Nein, irgendwas anderes musste der Grund sein, denn auch meine sonst geliebten Flocken schmeckten heute irgendwie scheußlich. 

Tetra hingegen aß um ihr Leben. Sie war innerhalb einer Minute fertig mit ihrer Schale. Zu meiner Verteidigung konnte ich mich auch nicht wirklich aufs Essen konzentrieren, da ihr Verhalten mich ziemlich beunruhigte. Derartig essen hatte ich sie noch nie gesehen. Allgemein hatte ich sie so noch nie erlebt. 

(“Entweder hat sie die Pubertät schon erreicht oder sie wird jetzt noch verrückter als zuvor...)”, vermutete ich nichts ahnend. 

Nach dem Verschlingen war ihr dann wirklich übel. Kein Wunder, nachdem sie so hastig gelöffelt hatte. Trotzdem machten wir uns daraufhin auf den Weg. 

 

6:50 ~ Aufbruch zur Schule 

Im Treppenhaus traf ich wie immer auf Alex. Bei ihm schien auf den ersten Blick alles in Ordnung zu sein. Das beruhigte mich ein wenig. Alex merkte aber sofort, dass mich etwas bedrückte. 

Alex: “Hey, alles gut?” 

“Ja, alles okay. Nur Tetra geht es nicht gut irgendwie, daher mache ich mir ein wenig Sorgen...” 

Alex weitete seine verschlafenen Augen und runzelte die Brauen hoch. 

Alex: “Ist aber nichts Ernstes, oder?” 

“Ich hoffe nicht...”, entgegnete ich mit verunsicherter Stimme zurück.  

 

Er schloss die Augen und gab ein kleines Seufzen von sich. 

Alex: “Alex, hör mir zu...” 

Er klopfte mir mit seinen großen Händen auf beide Schultern und schaute mir direkt ins Gesicht. 

Alex: “Mach dir keinen allzu großen Kopf, ok? Das tust du nämlich viel zu oft und das steht dir ganz und gar nicht. Und wenn doch was sein sollte, weißt du, dass du auf meine Hilfe zählen kannst.”, antwortete er mit zu spürendem Selbstbewusstsein. 

Es stimmte, dass ich schon immer ein sehr pessimistischer Mensch gewesen bin, der sich andauernd wegen allem zu viele Gedanken machte. Daher konnte ich gut nachvollziehen, woher Alex Worte stammen. Doch trotzdem fiel es mir irgendwie schwer Tetras depressives Verhalten von heute Morgen so einfach zu vergessen. 

 

“Ja, du hast ja schon recht...” 

Alex: “Natürlich habe ich recht!” 

Ich grinste ihn erleichtert an. 

“Danke...” 

Alex: “Gern geschehen. Los komm, sonst verpassen wir den Bus.” 

 

7:00 ~ Markus: “Hi, Alex und Alex” 

Auch bei Markus schien alles normal zu sein. Er begrüßte uns wie jeden Morgen und wir begrüßten ihn wie jeden Morgen zurück. Nur Tetras Verhalten stach am heutigen Tage merkwürdig hervor. 

Im Bus schaute ich unbewusst ein paar Mal zu ihr rüber und beobachtete sie dabei, wie sie alle paar Sekunden wild um sich blickte, als würde sie verfolgt werden. Normalerweise spricht sie mit einer ihrer Freundinnen oder so, aber heute schaute sie die ganze Zeit konzentriert aus dem Fenster. Erst glaubte ich, dass sie mal wieder verträumt in ihrer eigenen Welt feststeckt, aber irgendwie fühlte sich etwas anders an. 

(“Sicherlich wird sie einfach nur einen schlechten Tag heute haben... Wir alle haben den irgendwann...”), sprach ich mir zu. 

 

7:50 ~ Unterricht beginnt 
1. Unterrichtsstunde: Psychologie 

Die Idee, hinter Psychologie, das menschliche Erleben und Verhalten zu beschreiben und erklären, fand ich schon immer faszinierend. Sogar so sehr, dass ich es mir in letzter Zeit zu einem kleinen Hobby gemacht hatte, die Personen in meiner Umgebung genaustens zu beobachten und ihr Leben zu studieren. Ich nannte es das Analysieren von Menschen. 

Ich hatte von klein auf an immer schon sehr komische Interessen. In meiner Grundschulzeit beschäftigte ich mich ausgiebig mit Kartografie. Ständig saß ich kopfüber in allerlei Landkarten, Atlanten und was auch immer mich noch so umgeben konnte herum. Und das so lang, bis ich auch jede einzelne Hauptstadt und jeden Großgipfel auswendig kannte. 

Nur Noah konnte damals, wenn es um geografisches Wissen ging, mir das Wasser reichen. Auch wenn ich schon lange keinen Atlas mehr angefasst habe, weiß ich noch heute die merkwürdigsten Dinge. Wie die Hauptstadt von Malaysia, Kuala Lumpur. 

Jedenfalls wollte ich sehen, wieweit ich das Gesamte mit der Analyse von Leuten auf die Spitze treiben kann. Mein selbstgesetztes Ziel war es, sich über die Menschen in meiner Umgebung so gut auszukennen, dass ich ihr weiteres Vorgehen vorhersagen kann. Ich nannte es Projekt: Speculum Imaginem8 

 

Anfangs tastete ich mich an meinem Gedankenversuch heran, indem ich zuerst mit den Menschen begann, die ich in meinem Leben schon am längsten kenne. Meiner Familie. 

Die erste Sache, die mir auffiel, war, je näher ich eine Person kenne, desto eher kann ich einschätzen, was sie in der Lage sein wird, willentlich zu tun. 

Später ging ich aber auch über zu meinen Freunden, dann den Klassenkameraden und schließlich sogar soweit um bei Fremden weiterzumachen. Und so wurde es mir möglich, schon innerhalb von zwei Monaten bereits einige nennenswerte Dinge festzustellen. 

 

~ “Verzweifelte Menschen sind zu allem fähig, also häufig auch zu nichts mehr...9”~ 

Man sollte also vorerst davon ausgehen, dass Menschen sich ungern in einer Situation befinden, die sie aus ihrer Komfortzone bringen könnte. Und das bedeutet auch, dass sie in ein gewisses Muster fallen werden, um diese nicht zu verlassen. Dieses Muster kann man erkennen und zu seinem Vorteil nutzen. 

Bekommt man erst mal ein Gefühl für dieses Muster, so sollte man eigentlich theoretisch in der Lage sein, nicht mehr von dieser Person überrascht zu werden. Perfektioniert man sein Gespür für das Muster, sollte es sogar für einen möglich werden, Gefühle und Gedanken dieser Person zu erahnen, was vielleicht ein wenig gruselig klingt, aber nichts Übernatürliches ist. Denn das ist nichts anderes, als was wir Menschen unter Empathie verstehen. 

 

Nur stellten sich meinem Gedankenspiel ein paar Probleme in den Weg. Zum einen sind manche Menschen viel einfacher zu lesen als andere. Zwar scheint aufmerksam verbrachte Zeit mit einer Person dies zu relativieren, dennoch scheint es individuell zu sein, wie viel Zeit das Lesen in Anspruch nimmt. 

Zum anderen geben manche Menschen weniger Informationen zum Lesen als andere. Informationen sind aber die Kernessenz zum Erkennen jedes Musters. 

Diese Informationen können alles sein, von Körperhaltung, Gesichtsausdruck, Stimmlage bis zum äußerlichen Auftreten. Sie alle spielen in die Gefühlslage des Menschen und ohne sie ist das Analysieren gar nicht erst möglich. 

Mit der Zeit hatte ich mir antrainiert, das Analysieren zu benutzen, um mich aus schwierigen Situationen und Gesprächen zu entwinden, was sich mal mehr und mal weniger erfolgreich ergab. 

Und obwohl ich an Tag D in die wohl fatalste Situation meines bisherigen Lebens geworfen wurde, so half mir das Ganze rein gar nichts. Da dieser Tag nicht meine Fähigkeiten forderte, andere zu verstehen, sondern mich selbst. 

 

8:05 -15 Minuten nach Unterrichtsbeginn- 

~...Wie erwähnt, treten Rivalitätsgefühle mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil auf. Gleichzeitig fürchtet das Kind den Verlust von Liebe...~ 

---kzzzt--- ACHTUNG! ACHTUNG! DIES IST KEINE ÜBUNG! --- 

Mitten im Psychologieunterricht ging aus dem Nichts über die Lautsprecheranlage eine Sirene an, die ich zuvor noch nie vernommen hatte. Aus dem Sekretariat wurde das Schrecken jeder Schule angekündigt. 

--- WARNUNG VOR EINEM AMOKLAUF! ICH WIEDERHOLE! WARNUNG VOR EINEM AMOKLAUF! HALTEN SIE TÜREN UND FENSTER GESCHLOSSEN! SPERREN SIE DIE KLASSENZIMMER AB, VERSTECKEN SIE SICH UND BEWAHREN SIE RUHE! HILFE IST UNTERWEGS!!! --- 

Natürlich brachte diese Meldung trotzdem jeden in Panik. Auch ich, der diese brenzlige Situation liebend gern genutzt hätte, um meine Klassenkameraden zu analysieren, konnte keinen klaren Kopf bewahren. 

 

Vor ein paar Jahren gab es an einer Schule hier in der Umgebung schon mal einen Amoklauf, bei dem einige Menschen, darunter auch sehr junge, ums Leben kamen. Selbst viele Monate später hörte man immer wieder noch von den Folgen des tragischen Ereignisses im Radio oder im Fernseher. Kein Wunder also, dass ich sofort daran denken musste. 

Das so etwas ansatzweise Ähnliches an meiner Schule geschehen könnte, war für mich bis zu diesen Tag unvorstellbar gewesen. Allein der Gedanke, dass jemandem, der mir was bedeutet, etwas zustößt, vernebelte mir die Sinne und ließ mich ganz schwindelig werden. 

Ich erinnere mich, dass ich es erst gar nicht wahrhaben wollte. Ich sprach mir immer wieder zu, wie unwahrscheinlich es ist, dass so etwas gerade hier passiert. Gerade an meiner Schule. 

Doch wie es auch mein Verstand zurecht drehen wollte, die Durchsage ist wirklich passiert. Alle meine Mitschüler hatten es auch gehört. Ich hatte mir sie nicht eingebildet. Das konnte ich, egal wie sehr ich es auch versuchte, mir nicht vorlügen. Dies war nun meine Realität. Unsere Realität. 

 

Lange Zeit schien nichts zu geschehen. Wir warteten alle und horchten. Keiner traute sich, irgendwas zu sagen. Alle verhielten sich mehr oder weniger ruhig unter ihrem Tisch. 

Die Stimmung im Raum fühlte sich surreal an. Schon wieder herrschte diese unangenehme Stille. Es war wie ein Symptom dieses schrecklichen Tages. Ich versuchte mich zu erinnern, ob es hier jemals schon derartig still gewesen war, dass ich die so elend langsam tickende Wanduhr hören konnte. 

Von meinem Fensterplatz konnte ich gut einen Blick nach draußen wagen, doch unser Klassenzimmer war im höchsten Stockwerk, sodass es schwierig war, etwas von unten zu erhaschen. 

(“Tatsächlich! Die Polizei ist schon hier...”), stellte ich fest, als ich dann doch Personen in Uniform entdeckte. 

 

Bevor ich überhaupt ein Zeichen von Erleichterung von mir geben konnte, stürzten gerade in diesem Moment zwei Polizisten in unser Klassenzimmer. Alles Weitere verging dann ganz schnell. 

Nachdem sie wirklich nur vereinzelte Worte unserer Lehrerin zusprachen, forderten sie uns alle auf, Zweierreihen zu bilden und ihnen daraufhin tonlos zu folgen. Unsere Sachen sollten wir im Raum zurücklassen. 

Es brauchte kein Genie, um herauszufinden, dass sie uns zum Pausenhof lotsten. Angekommen herrschte dort schon ein riesiger Trubel. An die tausend Schüler von jeglichen Klassenstufen waren versammelt auf einem Haufen. Aber auch überraschend viele Polizisten waren vor Ort und um die Schülermenge stationiert. 

Uns wurde mitgeteilt, dass wir trotz alledem in Klassengruppen zusammenbleiben sollen. Bei genauerem Umsehen hatte es den Anschein, als wären wir alle hierhergebracht worden. Doch irgendwas stimmte nicht. 

 

(“Warum werden denn alle auf den Pausenhof geschickt?”...), überlegte ich,  

(“...Wenn noch Gefahr besteht, ist dies gewiss kein sicherer Ort gegen einen bewaffneten Geisteskranken...”)  

Konnte es sein das alles mittlerweile vorbei war und die Situation längst entschärft wurde? Irgendwie wollte ich dem kein Glauben schenken. 

Lediglich der Schuldirektor stand vor der gesamten Masse, sodass man ihn gut erkennen konnte und sprach mit einer Uniform, die als einzige unter allen dann doch irgendwie herausstach, da sie ganz in Schwarz bestand. Ich, der von der Rangfolge unseres nationalen Exekutivorgans keine Ahnung hatte, ging einfach davon aus, dass es sich um jemand wie den Polizeipräsidenten handeln könnte. 

 

Den Direktor wiederum kannte ich und trotz der typisch ernst aufgelegten Miene, war seine augenfällige Nervosität im schweißgebadeten Antlitz nur schwer zu übersehen. 

(“Hmm, mir gefällt das Ganze nicht... Das stinkt doch zum Himmel... Gibt’s jetzt noch Grund zur Sorge, oder nicht? ...”)  

Nervös und angespannt schaute ich mich nochmals gründlich in der Menschenmenge um. Endlich habe ich Alex und Markus entdecken können, was mich augenblicklich beruhigte. Ihnen beiden schien es gut zu gehen. In ihre Gesichter stierend grinste ich erleichtert. 

(“Huh... Am Ende werde ich mir wieder mal nur unnötig Sorgen gemacht haben. Es wird ja alles gut gehen...”) 

 

Doch in diesem Moment, wo ich versuchte, mir einzureden, frei von Ungewissheit zu sein, spürte ich auf einmal, wie aus dem Nichts mein Puls drastisch in die Höhe stieg. Schlagartig bekam ich das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen. So schnappte ich instinktiv mit meiner rechten Hand nach meinem Herzen und mit meinem Mund hektisch nach immer mehr und mehr Sauerstoff. Jedoch schien ich meine Atmung nicht mehr kontrollieren zu können. 

(“Was... geschieht... hier...?”) 

Es war wie eine Panikattacke. Die Welt um mich herum begann sich immer schneller zu drehen und alles begann sich gedämpft anzuhören, als befände ich mich unter Wasser. 

Stolpernd und benommen setzte ich mich zaghaft irgendwo abseits der Menge hin. Ich musste versuchen, mich irgendwie zu beruhigen. Ich wusste mit Sicherheit, dass jeden Moment irgendetwas Schreckliches passieren würde. Ich konnte es tief in meinem Innersten spüren. 

 

Aus dem Nichts tippte man mir auf die rechte Schulter. 

Noah: “Hey Alex... Du solltest davon wissen.” 

Ich hob meine geweiteten Augen langsam in Richtung der ernst klingenden Stimme. 

Noah: “Ich habe den alten Greis und den Bullen belauscht...”, nuschelte er mir von der Seite zu. 

Noah: “Die Klasse deiner Schwester befindet sich noch im Gebäude...” 

Er zeigte mit seinem Finger hinter sich. 

 

Dies war der Auslöser, der meine Emotionen schlussendlich hat meinen Verstand überfließen lassen. Selbst jetzt bin ich mir nicht sicher, wie ich die nächsten Augenblicke am besten beschreiben könnte. Von außen mag es zu Teilen magisch ausgesehen haben, doch von innen war es, so glaub mir gewiss, die Ausgeburt der Hölle selber. Was folgte, war die Verwandlung, die bestimmt war, mein Leben für immer zu verändern. 

Ich konnte auf die Info von Noah noch gar nicht reagieren, da begann mein Kopf schon so stark zu dröhnen, dass mein gesamter Körper wie gelähmt war. Alles um mich herum begann auszugrauen. Schon bald sah ich nichts außer eine graue, leere Landschaft. 

Um mich herum formten sich farbenfrohe, wild bewegende Bilder, die in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit an mir vorbeizischten. Sie zeigten alle Ausschnitte meiner Vergangenheit. 

Es waren Zigtausende von ihnen. Wie eine ganze Welt voller Leinwände, die alle mein bisheriges Leben in Dauerschleife zeigten und dass aus allen nur vorstellbaren Perspektiven. 

Es waren Erinnerungen, Momente, Entscheidungen... Alle waren sie schicksalsträchtig für mich gewesen. Sie waren es, was mich bis zu diesem Zeitpunkt ausgemacht hatten. 

 

Die fantastische Diashow überwältigte meine Auffassungsgabe immens, sodass es ohne Überraschung kam, dass der Reiz mich wie ein Schlag traf. Nein, es war kein einfacher Schlag...  

Es fühlte sich eher wie eine Serie von Aberhunderten Rutenschlägen an, die alle auf mich eindroschen. Ohne Rücksicht, ohne Zögern... Selbst als es sich so anfühlte, als wäre mein ganzer Körper von oben bis unten verdroschen und für immer verkommen, gab es kein Stoppen. 

Wie einem, dessen der Allerwerteste versohlt wird, bis er so komplett blau angelaufen ist, dass er ganz vergessen hat, wie er sich normalerweise anfühlen sollte und dann das Sperrfeuer trotzdem nicht aufhört, auf ihn einzudreschen, bis er komplett geistesgebrochen endet. 

 

Ich musste zu dieser Zeit in die Knie gezuckt und auf den Boden gefallen sein. Doch vor lauter Schmerzen hatte ich das nicht mal bemerkt. Das Leid war so unerträglich, dass ich es bis in den allerletzten Nerv wahrnahm. Es hörte einfach nicht mehr auf. 

Ich spürte meinen Körper, meine Glieder und schließlich mein Selbst nicht mehr. Es war, als würde sich etwas von mir trennen. Die vorherigen Gedanken voller Sorgen schossen wieder ungehindert durch meinen Kopf. 

(“Sie befindet sich also noch im Gebäude...”) 

(“Wie kann das möglich sein?”) 

(“Kann es sein, dass sie beim ihm ist?”) 

(“Kann es sein, dass sie gefangen gehalten wird?”) 

(“Kann es sein, dass sie gerade bereit ist, umgebracht zu werden?”) 

Doch diesmal, obwohl sie meiner Denkweise entsprachen, kamen sie nicht direkt von mir. Zumindest kam es mir so vor. 

Irgendwie kam ich zu dem Entschluss, dass ich nicht mehr ganz bei Sinnen sein konnte und irgendwas mich diese Stimmen in meinem Kopf hören ließ. 

Ich versuchte wieder an Bewusstsein zu erlangen, indem ich mir kräftig auf die Lippe biss. Doch ich empfand und empfing keinerlei Reaktion mehr von meinem Wahrnehmungsprozess. 

(“Warum habe ich diese miese Vorahnung, dass das hier in einer riesigen Tragödie endet...”) 

 

Nun bekam ich den Eindruck, dass das Ganze hier etwas viel Größeres als ein hirnloses Blutbad war. Plötzlich blitzte es vor meinen Augen. Vor mir entstanden mehrfache Halluzinationen. Sie zeigten alle Szenarien zusammen mit Tetra, mir und einen maskierten Menschen. Und egal, wie viele vor mir auftauchten, sie spielten sich alle gleich ab. 

In allen schrie sie um Hilfe... In allen fiel sie in meine Arme... In allen vollbrachte sie lächelnd ihre letzten Atemzüge... In allen wurde sie vor mir erschossen... 

Ich fragte mich, ob dies unmittelbar geschehen würde... Ich fragte mich, ob es bestimmt war zu passieren... Ich fragte mich, ob dies unwiderruflich war... Ich fragte mich, ob ich schon versagt habe... 

Ich schloss meine Augen. Nein, ich war sicher ihr Flehen tief in mir drinnen noch zu spüren. Ich wusste nicht, wie mir so bewusst war, dass sie noch lebte, doch ich war fest entschlossen, dass noch Zeit war, alles zu ändern. 

 

Auf einmal hörte ich vergessene Stimmen vergangenen Zweifels... 

???: “Willst du deine Schwester auch mal halten?” 

???: “Du musst mir versprechen, für immer ein guter Bruder zu ihr zu sein! Hast du verstanden?!” 

???: “Schau mal, wie sie versucht dir nachzumachen!” 

???: “Wie kannst du dich Bruder nennen, wenn du nicht mal auf dich selbst aufpassen kannst?!“ 

???: “Deine Schwester ist immer so gut gelaunt im Gegensatz zu dir. Schon irgendwie witzig!” 

???:“Einen großen Bruder zu haben, muss schon toll sein, oder?” 

???: “Ich sage dir, wenn deiner Schwester jemals etwas passiert, was du verhindern hättest können, dann wirst du dir das niemals wieder verzeihen!” 

...bis ich realisierte, was mir gerade gezeigt wurde. 

 

(“Ist dies vielleicht mein Schicksal? Ist es mein Schicksal, dass das Leben mir alles wegnimmt? Ist es mein Schicksal, für immer gefangen zu sein? Ist es mein Schicksal, Tetra zu verlieren, so wie ich alles verliere, was ich einst Lieben lernte...”) 

In mir sträubte sich der Wille, sich dem zu widersetzen. Wie eine unsichtbare Energie füllte er meine Seele. 

(“Nein, ich will das nicht... Ich will das doch nicht... Ich will das nicht mehr... Ich will nichts mehr verlieren!") 

Dann hörte ich eine mir unbekannte Stimme. Eine, die ich noch nie zuvor gehört hatte. 

 

Mysteriöse Stimme: “Möchtest du das Schicksal, das dir offenbart wurde, verhindern?” 

Ich schreckte auf. Woher kam diese Stimme? Und was meinte sie damit? 

Mysteriöse Stimme: ”Dann steh auf und ein Weg wird sich dir öffnen...” 

Instinktiv pulsierte in mir ein Verlangen nach Antworten. 

“Und was soll das bringen?! Man kann seinem Schicksal nicht entkommen! Das widerspricht sich doch selber!”, warf ich der Stimme entgegen. 

Mysteriöse Stimme: “Wenn du dem glaubst, dann bleibe für immer am Boden liegen. Ich sage dir, dass es sich in deiner Macht befindet, was passieren wird!” 

“Ich bin... Ich bin dazu nicht in der Lage...” 

 

Mysteriöse Stimme: “Doch du bist... So wie er und ich es einst getan haben, habe ich dich auch gesehen... Und bevor ich dich gesehen habe, habe ich dich gehört... Es gibt jetzt nur diese einzige Möglichkeit! Solange du nicht aus den Augen verlierst, wofür du kämpfst, wird sich dir auch weiterhin ein Weg öffnen. Auch wenn es vielleicht keiner sein mag, der dir gefallen wird...”  

Es war offensichtlich, dass ich wie heute Morgen wieder eine Entscheidung fällen musste. Doch ironischerweise fiel mir der Entschluss viel einfacher. 

“Ach, du hast bestimmt nur schlecht geträumt... Und wenn trotzdem was sein sollte, vertrau mir, werde ich dich davor beschützen. Egal, was auch immer es sein mag...” 

Tetra: “Wirklich?!” 

“Na klar, darauf kannst du wetten! Jetzt komm, zieh dich an... Oder willst du etwa zu spät kommen?” 

Mysteriöse Stimme: “Hmm... Ist dir die Gefahr diesmal bewusst geworden?” 

“Das ist mir egal! Ich werde alles tun, um sie zu beschützen! Das ist es, was ich ihr nämlich versprochen habe! Also werde ich mein Wort halten und genau das auch tun!”, posaunte ich in alle Welt hinaus. 

Mysteriöse Stimme: “Hahaha! Narren sind und bleiben Narren! Aber gut... Dann soll dies nicht das Ende deiner Geschichte sein!”, hallte die Stimme und verstummte. 

 

Während sich all das in meinem Kopf abspielte, fing die Außenwelt erste Auswirkungen einer bisher unbekannten Kraft festzustellen. Die vier Jungs gehörten zu den Ersten, die von meiner Transformation bemerkten. 

Noah: “Hey... Alles in Ordnung bei dir?!” 

Noah versuchte mich wachzurütteln, da ich wie benommen wirkte. 

Noel: “Noah, was hast du getan?!” 

Noah: “Ich bin... nicht sicher...” 

Noel: “Seine... Augen...”  

 

Noel hielt direkt beim ersten Anblick inne. Sein gesamtes Wesen war augenblicklich wie eingefroren. Nahezu im selben Moment hatte sein Verstand bereits realisiert, was geschehen ist. 

Marcus: “Sie leuchten... wieder...” 

Marcus Gesicht hatte unmittelbar einen ernsten Ausdruck ergriffen. Wie besessen machte er einen ganzen Satz zurück, bevor er sogleich kühn versuchte, sich mir wieder vorsichtig zu nähern. 

Marcus: “...fast, wie damals...” 

Jakob: “...” 

Jakob, der nun auch stillschweigend dazu kam, begann direkt aus Gewissheit selbst die allerkleinsten Veränderungen an meinen Körper genausten zu verfolgen, da mein äußeres Erscheinen sich langsam zu wandeln schien. 

 

Marcus: “...nur irgendwie... anders... intensiver...” 

Noel: “Das kann nichts Gutes bedeuten!” 

Marcus: “schluck... Hey Alex, kannst du mich hören?!” 

Als Marcus an mich herantritt, brach ich wie erwähnt in mich zusammen. Er versuchte mich zu stützen, doch ich hatte jegliche Spannung in den Muskeln verloren. Zusammen mit den anderen schafften sie es, mich zu stemmen und aufzufangen. 

Marcus: “Schnell! Jemand muss Hilfe holen!” 

Noah: “Er hat sich auf die Lippe gebissen?! Kann es etwa sein...?” 

 

Jakob: “Hey, schaut! Was ist dieses ganze Licht, das sich um ihn bildet?!” 

Noel: “Egal, was es ist, wir sollten vorsichtig damit umgehen!” 

Marcus: “Sein Pullover... Die Streifen verformen sich... Und seine Haare auch...” 

Noah: “Hmm, lasst uns am besten erst mal abwarten und beobachten, was als Nächstes geschieht. Ich glaube, dass all unsere Fragen gleich beantwortet werden...” 

 

(“Verdammte Scheiße! Gerade heute musste es so weit kommen, huh? Wieso musste ich wieder nur so ein Idiot sein!? Tetra hatte mit Sicherheit vorhin irgendeine Eingebung gehabt, dass heute etwas Beschissenes geschehen wird. Zum Teufel damit... Manchmal vergesse ich einfach, dass sie eigentlich ein ganz normales Mädchen ist. 

Wer war es noch gleich, der ihr eingeredet hat, dass in ihr drinnen mehr steckt, als dass sie sich zugesteht? Warum habe ich also diesmal nicht auf sie gehört!? Wir hätten zu Hause bleiben sollen... Ich hätte das alles verhindern können... Ich hasse mein Leben... 

Ihr weiches Gesicht färbte sich kreidebleich... Ihre tränengefüllten Augen blickten mich voller Leid an... Ihre zitternden Hände streckten sich zu mir aus... Und das alles reichte nicht für mich aus... Wie kann ich mich eigentlich noch Bruder nennen...  

Tetra... Ich schwöre bei meinem gesamten mickrigen Dasein... Niemals... niemals wieder soll ich mein eigenes Wohl jemand anderem vorziehen... Glaub mir... Es ist... alles... Es ist alles...”) 

“ES IST ALLES MEINE SCHULD!” 

 

Dieser Schrei war so schrill, wie ich noch nie einen zuvor in meinem Leben vernommen hatte. Kein Stimmgerät der Welt hätte diesen Laut bestimmen können. Es wirkte für mich, als käme es direkt aus den Tiefsten meiner innersten Stimme. Meiner Seele.  

Ein plötzlicher Kraftschub kam wie aus dem Nichts und durchschoss augenblicklich meinen gesamten Körper. Auf einmal stand ich wieder und so vollgeladen mit Energie, was zuvor noch als so wirklichkeitsfremd und unerreichbar für mich galt. 

Natürlich hatte ich dadurch die Aufmerksamkeit von den Leuten um mich herum erregt. Zu meiner eigenen Überraschung begann ich wild durch die Menschenmenge zu rennen. Mein Körper bewegte sich von ganz von allein. Ich hatte keinerlei Kontrolle mehr über ihn. 

Auf einmal bekam ich das Empfinden, dass irgendetwas in mir suchte und suchte. Doch was auch immer es auch suchte, es schien es nicht zu finden. 

Mit der Zeit spürte ich aber, wie es kontinuierlich schneller wurde. Ich konnte nur noch schwer folgen, wohin es ging. Es erreichte langsam Geschwindigkeiten, die gesamte Winde erzeugte und die Schüler wegwehte. 

 

Alex: “Alter, hast du das gesehen?! Das war grad so schnell, dass es alle in der ersten Reihe umgehauen hat!” 

Markus: “Uff, warum überkommt mir das miese Gefühl, das er damit zu tun hat? ...” 

Alex: “Merkwürdig, ich musste gerade dasselbe denken. Los komm!” 

Markus: “Ja...” 

 

Mein Rasen schien ein Ende vor dem Schuleingang zu nehmen, den zwei Polizisten bewachten. Sie schauten mich verwundert an, da sie nicht realisiert haben, wie ich so plötzlich auftauchen konnte. 

Arroganter Polizist: “Huh?! Was willst du hier, Kleiner? Du sollst doch bei deiner Klasse bleiben!”, zischte der Größere der beiden. 

“Lasst... mich... durch!”, protestierte es aus mir heraus. 

Doch er starrte mich nur blöd glotzend an, als hätte er sich gefragt, ob denn noch alle Tassen in meinen Schrank stehen. Beim besten Willen konnte ich ihm das nicht verübeln. Selbst jeder Wahnsinnige hätte meinen Zustand mittlerweile für klapsmühlenreif abgestempelt. 

 

Verschüchterter Polizist: “Ju-Junger Mann, ich kann mir vorstellen, wie erschreckend die Situation für dich sein mag. Gla-Glaub mir, dass sie das für uns alle ist. Ab-Aber wir können nicht für alle Sicherheit gewähren, wenn nicht jeder... AUTSCH!” 

Der aufgeblasene Polizist trat seinen Kollegen auf den Fuß. 

Arroganter Polizist: “Was mein guter Freund hier dir weismachen will, ist ganz einfach...” 

Er zwinkerte mit einem funkelnden Lächeln im Gesicht einer Gruppe junger Lehrerinnen zu, die etwas abseits untereinander tuschelten und dabei laut kicherten. 

Arroganter Polizist: “Wenn du hier nicht gleich verschwindest, sieht es so aus, als würden wir unsere Arbeit nicht richtig machen... Also zisch endlich ab, Kleiner! Oder muss ich dir Beine machen!?” 

Der ängstliche Polizist verdrehte die Augen und stöhnte dabei. 

 

Sobald ich realisierte, dass Worte bei denen nichts taugen würden, schaltete es irgendwie in mir um. Unbewusst zog ich mit der linken Hand den hasenfüßigen Erwachsenen in Sekundenschnelle zu mir her und verpasste ihm direkt eine Kopfnuss, die ihn ausknockte. 

Im selben Atemzug griff ich mit der anderen Hand nach seiner Pistole. Obwohl ich noch nie eine Waffe in der Hand gehalten hatte, konnte ich die Pistole innerhalb eines Augenzwinkerns entsichern, laden und auf die Person vor mich richten. 

“...Lasst! ...Mich! ...Durch!”, schrie ich mit einem Blick auf dem Gesicht, der hätte töten können. 

Arroganter Polizist: “Hey, hey, jetzt beruhigen wir uns wieder... Bevor wir alle Dinge tun, die wir später bereuen werden.”, stammelte er nicht mehr so übermütig und hob seine Hände. 

 

Mit todernster Miene schoss ich, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, geradewegs in den Himmel. Der Knall resultierte augenblicklich in einen riesigen Aufruhr. Eine Menge Schüler schrien auf und begannen kreuz und quer zu rennen, verzweifelnd einen Fluchtweg zu finden. Doch die um den Pausenhof stationierten Polizisten schritten sofort zur Tat, um den herrschenden Tumult einzudämmen und eine Barrikade zu bilden, die alle von mir fernhielt. 

Alle restlichen Polizisten hatten mittlerweile Wind von meiner Aktion bekommen und richteten nun ihre eisernen Handhaben genau auf mich. Selbst der heuchelnde Polizist vor mir versuchte sich mir nun langsam zu nähern, um mir die Waffe zu entreißen. 

Der Polizeipräsident, der gerade noch mit dem Direktor gesprochen hatte, schenkte mir endlich auch seine Beachtung und schritt langsam zu mir heran. 

 

Polizeipräsident: “Junge, lass die Waffe fallen! Sonst kommst du in noch viel größere Schwierigkeiten als ohnehin schon! Du musst nicht versuchen, den Helden der Gerechtigkeit zu spielen!” 

Spätestens jetzt hätte ich auf meinen gesunden Menschenverstand gehört und aufgegeben. Doch ich war nicht ich selber. Ich hatte jegliche Kontrolle über mich und mein Tun verloren. 

Die Turba hatte sich mittlerweile dank der Lehrer schon beruhigt. Alle verfolgten die angespannte Situation, die noch voll im Gange war. 

“Ich bin kein Held oder irgendwas in der Richtung! Doch ich weiß, was ich zu tun habe und das ändert sich nicht! Auch wenn es nicht das Richtige sein mag!”, schrie ich der Menge entgegen. 

Ich weiß noch, dass mir der Gedanke kam, ob ich mich selber erschießen sollte. Doch ich sah mich in der Situation nicht in der Lage dazu. Stattdessen hielt ich die Waffe mit einem breiten Grinsen direkt vor mein Gegenüber.  

 

Polizeipräsident: “Dann lässt du uns keine Wahl, Bursche! Auf 5 werden wir anfangen zu schießen...” 

---EINS!--- 

Egal wie sehr ich auch versuchte, mich zu beruhigen, ich konnte den festen Griff, in der ich die Pistole hielt, nicht lösen. Ich konnte nicht von Ort und Stelle kommen. Ich konnte nicht kapitulieren. Ich konnte einfach nicht aufhören, an sie zu denken. 

---ZWEI--- 

Ich hatte Angst, dass ich nicht lebend hier herauskomme... Ich hatte Angst, dass das Schicksal, das mir gezeigt wurde, eintreten wird... Ich hatte Angst, dass alles, für was ich stehe, verschwinden wird... Ich hatte Angst, dass, wenn ich loslasse, ich mich selber verliere... 

---DREI!--- 

“Wahl?! Pfff... Welch Unsinn! Als hätte ich je eine Wahl gehabt... Doch jeder, der versucht, meine Freunde zu verletzen, wird bezahlen. Auch wenn das bedeuten mag, dass ich mir die Welt zum Feind machen muss!” 

---VIER!--- 

“So bin ich eben...” 

---FÜNF!--- 

Im gerade letzten Moment ließ ich die Pistole aus der Hand fallen und machte einen Satz nach vorne. Mit einem kleinen Schubser drückte ich den blöden Bullen durch eine geschlossene Glastür zehn Meter weit gegen eine Wand, wodurch er daraufhin auch ausgeknockt wurde. Die anderen Polizisten begannen zu schießen, doch von mir war nur noch aufgewirbelter Staub zu sehen. 

 

Für das folgende Geschehen, lieber Leser, wechseln wir die Perspektive vom Jungen zu seiner Schwester. 

 

Hallo, 

mein Name ist Tetra, was die griechische Vorsilbe für die Ziffer Vier ist. Meine Eltern haben mir mal erzählt, dass sie für mich diesen Namen ausgesucht hatten, weil diese Zahl mich schon von Geburt an immer schon begleitet hat. 

Ich bin nämlich am 4. April 04 fast ganze vier Jahre nach meinem großen Bruder auf die Welt gekommen, was sie dann auf den Gedanken gebracht hat diesen Namen auszusuchen. Irgendwie lustig, was? 

Früher habe ich oft nachgedacht, wie ich wohl heißen würde, wenn ich einen Tag oder vielleicht sogar einen Monat später das Licht der Welt erblickt hätte. Doch ich habe mir schon immer so einiges vorgestellt, daher ist dies nicht wirklich verwundernd. 

 

Nur von jenem hatte ich bis zum besagten Anriss keine Ahnung. Denn was für mich stets wie ein spaßiger Zufall wirkte, sollte sich im Nachhinein als gewollte Fügung Fortunas herausstellen. 

Schließlich war der Name Tetra mit dem Eintreffen D von nun an dazu bestimmt, für aller Leben eine große Erschütterung zu repräsentieren, die äonenbewährte Verhältnisse für immer aus ihrem Gleichgewicht bringen wird. 

Und ich erinnere mich an diesen Tag. Dieser besagte Tag, oh ja. Als wäre es der einzige Tag in meinem Leben gewesen. 

 

Eigentlich hätte es ein ganz normaler Schultag werden sollen, einer wie jeder andere auch. Einen, auf den ich eigentlich gar keine besondere Lust hatte. Doch irgendwie hatte das Schicksal größere Pläne für mich und alle, die ich nahe bei meinem Herzen hielt. 

Schon am frühen Morgen wurde ich von diesem schrecklichen Empfinden geplagt, an das ich schon von klein auf immer wieder erinnert werde und das mich nie wirklich verlassen hat. Dieses Empfinden, das, sobald es auftaucht, so unerträglich ist, dass alles in meinem Kopf nicht mehr richtig funktionieren kann. 

 

Es fühlt sich so an, als wüsste man irgendwie auf einmal tief in sich drinnen, dass gleich etwas so unglaublich Grausames jeden Moment geschehen wird, dass dein ganzer Körper in sich zusammenfalten will. So ähnlich wie ein Déjà-vu. Nur glaubt man nicht, dass etwas schon mal geschehen ist, sondern dass etwas schon wieder passieren wird. 

Und es ist um einiges intensiver... Stimmung, Hormone, einfach alles spielt verrückt... Du hast den Drang ständig dich umzuschauen, nie auf einer Stelle zu bleiben, immer ein wenig schneller zu laufen als gerade noch... 

Alle deine Sinne sind total aktiviert und sensitiv. Als wäre ein Schalter in dir umgelegt worden, der sie auf 100% stellte. Ganz normale Tätigkeiten, über die du eigentlich nicht mal nachdenken müsstest, werden plötzlich unmöglich. 

 

Und diese Beschreibung wird dem Allem nicht mal ansatzweise gerecht. Es ist für mich wirklich schwer, dieses Phänomen jemanden richtig und anschaulich zu erklären. Praktisch erfährt man eine einzigartige einmalige Sensation, die einem eine erschütternde Zukunft erlaubt. 

Ich hatte das schon einige Male in der Vergangenheit, doch nie so stark ausgeprägt wie an Tag D. Die meiste Zeit glaubte ich selbst, dass es nur Einbildung ist. Denn was ich auch fantasierte, es trat nie ein. 

Und obwohl die gesamte Welt es mir nicht erlaubte, dieses Empfinden, das ich verspürte, in mir zu tragen, glaubte er mir, dass da etwas ist. Etwas, was selbst das Schicksal nicht bezwingen kann. 

 

Im Unterricht waren meine Schmerzen unerträglich geworden. Ich war ein schwerfälliges Händeheben davon entfernt, mich bei meiner Lehrerin zu melden, um auf Anfrage mich ins Krankenzimmer zu begeben, da stürmte schlagartig diese maskierte Figur ins Klassenzimmer und bedrohte uns alle mit seiner Waffe. 

Sie befahl, dass sich alle Kinder und Fr. Spieß auf den Boden legten. Danach sperrte sie das Zimmer ab und forderte Fr. Spieß dazu auf, ihr Handy zu übergeben. Ich hörte noch, wie eine Nummer gewählt wurde, als meine Ohren langsam verstummten. 

Von dem Anruf hatte ich nichts mehr mitbekommen. Ich fühlte mich, als stände ich kurz vor dem Sterben. Mein Kopf dröhnte. Mein Körper zitterte. Mein Gesicht kreidebleich. Klebender, stinkender Schweiß kam aus jeglichen Poren meiner Haut. 

 

Erst hatte ich Angst um meine Freunde, Angst um mich selber, aber dann hatte ich nur noch Angst um ihn. 

Die Tür des Klassenzimmers wurde mit einem Tritt aufgestoßen. Sie fiel einfach aus der Wand. Die Tür knallte auf den Boden und brach in zwei. Dann war es für einen Atemzug still... 

 

“WIE KANNST DU ES WAGEN MEINE SCHWESTER ZU BEDROHEN!” 

 

Peng! 

Die maskierte Figur schoss auf ihn. Einfach so... Ich konnte nichts daran ändern. Ich konnte nur zuschauen. Ich konnte es nur über mich ergehen lassen. Ich hasste es, dass ich so hilflos war. 

Ich sah ihn an. Er war glücklich. Er lächelte von ganzem Herzen. Er sah so voller Leben aus. Wie konnte er fröhlich sein? War ihm denn nicht bewusst, dass er jetzt sterben würde? Doch wahrscheinlich... wahrscheinlich freute er sich einfach, mich zu sehen. 

 

Die Augen des Jungen begannen zu leuchten. So hellgrün waren sie seit seiner Geburt nicht mehr gewesen. Die Nase des Jungen begann nach Luft zu schnappen. Es schien, als würde die Luft gerade nur wollen, eingesogen zu werden. Die Lippen des Jungen waren blutrot und feucht. Man hätte es glatt für Lippenstift halten können. Die Ohren des Jungen wackelten. Sie wackelten normalerweise nicht, doch jetzt in diesem Moment taten sie es wie nie zuvor. Die Aura des Jungen war gewaltig. Dem Jungen, getränkt in der Kraft, gelüstete es nur nach einem. Rache. 

Die Schwester des Jungen begann zu weinen. Doch es waren keine Tränen der Trauer. Es waren Tränen der Erleichterung. Die Kugel der Waffe, die der Maskierte schoss, zerriss in der Luft entzwei. Und nicht nur die Kugel, sondern auch der Täter selbst.

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